Einige seiner denkwürdigsten Spiele und Momente erlebte Roger Federer bei den Australian Open. Hier feierte er seinen ersten Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier. Sechs Mal gewann er den Titel. Und nun, zwanzig Jahre, oder 7311 Tage nach der Premiere, feierte er seinen 100. Sieg in Melbourne.
Auf über 40 Grad Celsius steigt das Thermometer am Dienstag, dem 18. Januar 2000. Es ist der Tag, an dem Roger Federer als 18-Jähriger seinen ersten Sieg bei den Australian Open feiert, den ersten bei einem Grand-Slam-Turnier überhaupt. 6:4, 6:4, 7:6 (7:5) setzt sich der Schweizer gegen den damals 28-jährigen Amerikaner Michael Chang durch, immerhin die Nummer 38 der Welt und French-Open-Sieger von 1989. 1998 hatte Federer im Turnier der Junioren die Halbfinals erreicht, 1999 war er in der Qualifikation gescheitert. Federer sagt: «Grand-Slam-Matches sind für einen Profi wie ein Schaulaufen, da muss man zeigen, was man draufhat.» Die Australien Open seien das beste Turnier des Jahres, «weil das Wetter immer optimal ist, die Fans in Massen kommen und um die Plätze eine einzige Partystimmung herrscht».
Sein nächster Gegner ist der Slowake Jan Kroslak. Weiter schaue er nicht. Und tat es dann doch: «Ich weiss nur, dass Lapentti der erste Gesetzte wäre und Sampras im Final warten würde.» So weit kommt Federer nicht. Er scheitert in der dritten Runde am Franzosen Arnaud Clément (ATP 54) in drei Sätzen. Wie übrigens auch im Jahr darauf. Dafür gibt es ein Preisgeld von knapp 20'000 Dollar. Am gleichen Tag wie Roger Federer feiert damals eine weitere Schweizerin ihren ersten Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier. Die drei Jahre ältere Thurgauerin Mirka Vavrinec, seine heutige Frau. Es muss Schicksal sein. Heute sagt Federer: «Sie war schon bei mir, als ich noch keinen Titel hatte, und sie ist noch immer da. Sie spielte dabei stets eine wichtige Rolle für mich – sie weiss es, ich weiss es, alle wissen es.»
Am 29. Januar 2016, am Tag nach seiner Halbfinal-Niederlage gegen Novak Djokovic, verletzt sich Roger Federer beim Einlassen eines Bads für seine Zwillingsmädchen Charlene und Myla. Diagnose: Meniskusriss im linken Knie. Es ist der Anfang einer Malaise, die im Sommer nach Wimbledon im Abbruch der Saison endet. Federer spielt erstmals mit dem Gedanken an den Rücktritt. Und er fällt erstmals nach über 14 Jahren aus den Top Ten der Weltrangliste.
Bei den Australian Open 2017 kehrt er zurück. Und schreibt eines der schönsten Kapitel seiner Karriere. Auf dem Weg in den Final besiegt er drei Top-10-Spieler und übersteht zwei Fünfsätzer. Dort trifft er auf seinen Erzrivalen Rafael Nadal, den er bei einem Grand-Slam-Turnier seit fast zehn Jahren (Wimbledon 2007) nicht mehr besiegt hatte. Und gewinnt nach 1:3-Rückstand im fünften Satz mit 6:4, 3:6, 6:1, 3:6, 6:3. Es ist sein 18. Grand-Slam-Titel, und der erste seit Wimbledon 2012.
Über 1,5 Millionen schauen in der Schweiz am Fernsehen zu, als Federer den Matchball verwertet, und SRF-Kommentator Stefan Bürer das Bonmot des «füdliblutten Wahnsinns» kreiert. Federer sagt: «Jetzt feiere ich wie ein Rockstar.» Und er lässt seinen Worten Tagen folgen und kehrt erst im Morgengrauen zurück. «Die Buben haben gleich ihre Spielsachen in den Pokal getan. Und die Mädchen haben angefangen, ihn zu putzen. Ich habe keine Ahnung, wie viel ich geschlafen habe – ob ich überhaupt geschlafen habe!» Auch am Tag danach ist er von den Emotionen überwältigt: «Als ich am Morgen aufstand, dachte ich mir: ‹Es stimmt, ich habe gewonnen, es ist wahr, es war kein Traum!›» Der Final der Australian Open fand am 29. Januar 2017 statt. Und damit auf den Tag genau ein Jahr, nachdem sich Federer in Melbourne verletzt hatte.
Roger Federer befindet sich in Hochform und gewinnt mit den Australian Open das dritte der letzten vier Grand-Slam-Turniere, allerdings das erste als Vater. Im August waren die Zwillingsmädchen Charlene und Myla zur Welt gekommen. «Vor einem Jahr in Melbourne erfuhren wir, dass wir im Sommer nicht nur ein Baby, sondern Zwillinge bekommen. Ein Jahr später haben wir nun zwei Babys, drei weitere Grand-Slam-Titel – und ich hoffe auf mehr.» 6:3, 6:4,7:6 hatte er im Final Andy Murray besiegt und sprach danach von einem «perfekten Turnier» und davon, dass er wohl so gut wie noch nie in seiner Karriere spiele.
«Es ist anders und fantastisch, die Familie dabei zu haben. Ich möchte es nicht mehr anders haben. Manchmal denke ich, ich hätte schon früher eine eigene Familie haben sollen, es macht so viel Spass. Die Babys sind so gut im Moment – ich weiss aber, dass auch härtere Zeiten kommen werden. Wir geniessen es. Es gelang mir schon immer gut, das Tennis vom Rest meines Lebens zu trennen. Nun ist es noch intensiver. Das hilft mit, dass ich auf dem Court meine innere Ruhe finde.» Das einzige Malheur passiert Federer erst nach dem Final: «Als ich ins Hotel zurückkam, steckte ich in der Tiefgarage fest, zehn Minuten lang. Samt Pokal», erzählt der Schweizer. «Ich konnte meinen Hotelschlüssel einfach nicht finden. Es war brutal heiss da unten.»
Roger Federer hat schon viele Schlachten geschlagen, 114 davon bei den Australian Open. Aber kaum eine war so dramatisch wie jene gegen den Einheimischen John Millman (ATP 47). Im fünften Satz liegt er mit Break im Hintertreffen; und im Matchtiebreak 10 4:8, ehe er die letzten sechs Punkte gewinnt und nach 4:03 Stunden den 4:6, 7:6, 6:4, 4:6, 7:6-Sieg sicherstellt. Es ist ein emotionaler Höhepunkt. Federer sagt: «Oh Gott, das war brutal. Und in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Spiel» Solche Partien seien der Grund, weshalb er noch spiele. «Es muss nicht immer ein Final sein.» Brutal, frustrierend, zermürbend sei es zuweilen gewesen. Auch, weil im Alter von 38 Jahren jeden seiner Auftritte ein Hauch von Endgültigkeit umweht, dem auch er sich nicht entziehen kann.
Jedes Spiel, jeder Schlag könnte der letzte sein. Und weil er im Schaufenster der Weltöffentlichkeit einen Kampf führt, den auch er nicht gewinnen kann. Er möchte im Hier und Jetzt verharren, das Spiel geniessen, das ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Seine Anhänger aber wollen ihn für die Ewigkeit, oder zumindest für ein Jahr, noch lieber zwei. Doch auch Roger Federer, der Ewige, wird nicht ewig spielen können. Unerbittlich rinnt die Uhr, auch wenn das niemand wahrhaben will. Nicht seine Anhänger. Nicht Federer selber. Doch noch ist es nicht so weit. Noch spielt Federer. Noch entzückt er die Zuschauer. Noch gewinnt er Spiele, vielleicht auch noch grosse Titel. Noch ist seine Geschichte nicht zu Ende geschrieben. Sein 100. Sieg bei den Australian Open ist ein weiteres Kapitel. Und noch nicht das letzte.