Freitagabend, Gleis 1 im Bahnhof Montreux. Die Stimmung auf dem Bahnsteig ist gut: Euphorisierte Festivalbesucher kehren vom Montreux Jazz Festival zurück, Urlauber aus Italien befinden sich auf der Durchreise, und Einheimische machen sich auf den Heimweg. Der Zug um 22:29 Uhr aus Domodossola in Richtung Genf über Lausanne wird angekündigt. Die Türen öffnen sich.
Alle steigen ein – oder versuchen es zumindest. Die Waggons füllen sich schnell, die Sitzplätze sind schnell weg. Die Gänge verstopfen, Koffer bleiben stecken. Der Platz wird eng, doch die Passagiere müssen sich in Geduld üben. Denn: Der Zug fährt nicht ab.
Eine Minute vergeht. Dann zwei. Dann fünf. An Bord wächst die Verwunderung. Erste Seufzer sind zu hören. Man überprüft die Abfahrtszeit auf dem Handy. Noch immer kein Zeichen, das auf eine baldige Abfahrt hindeutet. Da ertönt plötzlich eine Stimme aus den Lautsprechern der Waggons:
Überraschte Blicke werden ausgetauscht. Die Durchsage wirkt ungewöhnlich – besonders in einem Land, in dem Stehplätze zu den Hauptverkehrszeiten alltäglich sind. Viele halten sie zunächst für ein Versehen. Doch wenige Augenblicke später wird die Ansage erneut durchgegeben.
Was steckt also hinter dieser ungewohnten Durchsage? Auf Anfrage von watson bestätigt SBB-Sprecher Jean-Philippe Schmidt den Vorfall. Er erklärt aber auch, dass es sich um einen Ausnahmefall handelt: «Solche Vorfälle sind sehr selten», sagt er. Der Grund liege laut ihm am eingesetzten Zugtyp: «Der Zug um 22:29 Uhr ist ein EuroCity, ein internationaler Zug zwischen der Schweiz und Italien.»
Beim betroffenen Zug handelt sich somit weder um einen Regio-, InterRegio- noch einen klassischen InterCity-Zug. Doch am Freitagabend wollten aussergewöhnlich viele Menschen – Festivalbesucher, Gelegenheitsreisende, Transitpassagiere – genau diese Verbindung nutzen. Deshalb habe man entschieden, alle Fahrgäste ohne Sitzplatz aussteigen zu lassen: Der Zug galt als überladen.
Die naheliegende Frage lautet also: Hatten die SBB die deutlich grössere Anzahl Passagiere durch das alljährliche Festival an den Ufern von Montreux unterschätzt? Das sei nicht der Fall, betont der Unternehmenssprecher:
Der Sprecher erklärt weiter: «Der EuroCity war aufgrund seiner Bauweise nicht dafür ausgelegt, zusätzliche Fahrgäste aufzunehmen. Dafür waren die nachfolgenden Züge – insbesondere der um 22:38 Uhr sowie spätere Verbindungen – gezielt dafür vorgesehen, den Andrang aufzufangen. Diese Züge sind auf die Beförderung zahlreicher Fahrgäste, auch im Stehen, ausgelegt.»
Anders gesagt: Das Angebot war durchaus angepasst worden – nur eben nicht bei diesem spezifischen internationalen Zug. Die einzige verbleibende Lösung bestand daher gemäss SBB-Angaben darin, Fahrgäste ohne Sitzplatz zum Aussteigen aufzufordern.
Der ganze Vorfall dauerte rund eine Viertelstunde – so lange, bis einige Fahrgäste, teils resigniert, teils verärgert über das Ultimatum, wieder ausstiegen. Schliesslich konnte der Zug mit leichter Verspätung den Bahnhof verlassen.
Die ausgestiegenen Passagiere mussten derweil auf den Zug um 22:38 Uhr warten – auch dieser hatte Verspätung, bedingt durch die Verzögerung des vorhergehenden Zuges aus Italien in die Schweiz.
Vielleicht wäre bei der Durchsage noch eine Hinzufügung angebracht gewesen, so à la: "Personen, die jetzt aussteigen, müssen nicht lange warten, der nächste Zug fährt schon in neun Minuten!"
Zumindest ich wäre dann mit weniger Unverständnis ausgestiegen...
Etwas dieser Art hätte wohl schon geholfen...
Das ist noch keine Begründung. Warum geht es in einem Zug und im anderen nicht? (Die Frage ist ehrlich gemeint, es interessiert mich wirklich.) Übrigens bin ich auch schon in einem überfüllten TGV von Zürich nach Basel gefahren.