Die grossen Sportdramen (ein grandioses Schauspiel kann kurz und bündig als Drama bezeichnet werden) dauern im 21. Jahrhundert mehrere Tage. Aber nicht zu lang, idealerweise rund eine Woche. Sie werden direkt am Fernsehen übertragen, die Chronistinnen und Chronisten beschreiben die Ereignisse in den bunten, bewegenden, eindringlichen, phantasievollen Worten. Immer mehr Menschen interessieren sich und werden in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt. Zum Finale, idealerweise am Sonntag, wird eine ganze Nation vor den TV-Apparaten vereint.
Noch kein anderes Sportereignis im TV-Zeitalter unseres Sportes hat so sehr alle Anforderungen eines ganz grossen Dramas erfüllt wie diese Davis Cup-Saga. Ja, es wäre gar nicht möglich gewesen, ein besseres Drehbuch zu schreiben. Die Wirklichkeit hat wieder einmal die Fiktion überholt.
Es gibt eine lange Vorgeschichte. Die erste Runde gegen Serbien (3:2 auswärts) ist bloss eine Randnotiz im grossen Sporttheater (31. Januar bis 2. Februar 2014) und wird in der Vorfreude auf die Olympischen Winterspiele kaum beachtet. Dann folgen die Siege über Kasachstan (3:2 im April) und schliesslich die Finalqualifikation gegen Italien im September (3:2) in Genf. Dieser Sieg über die Italiener ist der eigentliche Beginn des Dramas. Die Menschen im Lande beginnen sich für den Davis Cup zu interessieren.
Acht Tage vor dem grossen Triumph von Lille spielen Roger Federer und Stan Wawrinka beim Masters in London gegeneinander. Roger Federer gewinnt und verzichtet wegen Rückenbeschwerden aufs Endspiel. Besser hätte das Davis-Cup Finale nicht angeheizt werden können. Kann Roger Federer spielen? Oder muss er verzichten? Und wenn er spielt – kann er dann zwei Einzel und das Doppel bestreiten oder reicht es vielleicht nur für ein Spiel?
Ach, nichts gibt mehr Stoff her als solche medizinischen Beschwerden und noch selten hat es so viele Ferndiagnosen gegeben. Für so viele «Experten» eine prima Gelegenheit, sich mit den unsinnigsten Behauptungen Gehör zu verschaffen. Und ist dieses Spiel unserer Titanen vielleicht ein Fingerzeig der Sportgötter, dass wir nicht zu hoch hinaus sollten. Das Masters von London 2014 fast wie einst Marignano 1515, das den Eidgenossen den Weg zurück in die Bescheidenheit gewiesen hat?
Aber es braucht ja auch den richtigen Gegner. Deutschland wäre auch gut gewesen. Die USA wären auswärts schon wegen der Zeitverschiebung weniger für ein TV-Drama geeignet. Frankreich ist eigentlich der perfekte Gegner. Eine grosse, stolze Sportnation, die dieses Finale zu einer Sache der nationalen Ehre macht, zum «Kampf bis zum Letzten» erklärt («L’Ultimate Combat») und in Lille zum grössten Tennis-Ereignis aller Zeiten (Zuschauer-Weltrekord) macht.
Das Finale ist schliesslich das erhoffte grosse Schauspiel (= Drama) geworden. Stan Wawrinka, der Brave, der Kämpfer, gewinnt sein Spiel – doch Roger Federer, der Göttliche, verliert. Werden jetzt unsere Götter also doch aus dem Sporthimmel gestürzt? Sind wir zu hoch geflogen wie einst Ikarus?
Der zweite Tag bringt fast die Entscheidung. Die zwei Titanen, die eine Woche zuvor gegeneinander gerungen haben, sind jetzt vereint. Roger Federer und Stan Wawrinka. Es ist eine Mischung aus Einzel- und Mannschaftssport. Mag sein, dass ein Tennis- Doppel nicht mit den klassischen Mannschaftssportarten wie Fussball oder Eishockey verglichen werden kann. Aber wenn zwei im Wesen und Wirken so gegensätzliche Alphatiere zusammenspannen, dann ist es ein Experiment für die sportliche Ewigkeit und hat eben doch mit Mannschaftsport zu tun. Der Göttliche und der Irdische, der Charismatische und der Fleissige. Und darüber hinaus, damit es für die Schweiz perfekt ist, ein Deutschschweizer und ein Welscher. Niemand hätte so etwas glaubwürdig erfinden können.
Roger Federer und Stan Wawrinka gewinnen das Doppel. Die Schweiz führt 2:1. Es braucht am dritten, am letzten Tag nur noch einen Sieg. Auch das gehört zum perfekten Drama: Eine ganze Sportnation geht in der freudigen Erwartung eines historischen Triumphes schlafen. Morgen, ja morgen gewinnen wir! Aber es bleibt ein leiser Zweifel, der die Spannung noch weiter erhöht: Kann der Roger Federer wirklich spielen? Hält der Rücken auch am dritten Tag?
Er kann spielen. Es ist der Göttliche, es ist Roger Federer, der diesen Triumph vollendet. Welch eine Stimmung. Und dieser stetige Wechsel von rauschender Stimmung zu absoluter, ja, absoluter Ruhe wenn die Bälle gespielt werden, gehört zu den faszinierendsten Sporterlebnissen. Diese Ballwechsel sind Atemzüge der Seele.
Die letzten Ballwechsel sind wie eine Hommage an Roger Federer. Richard Gasquet weiss, dass er längst verloren hat, dass er sich dem Göttlichen beugen muss. Jeder in der Arena weiss es. Um 15.03 Uhr ist es vollbracht. Roger Federer hat Richard Gasquet besiegt. Die Schweiz gewinnt zum ersten Mal den Davis Cup. Die französischen Zuschauer, die ihre Männer so leidenschaftlich unterstützt haben, erheben sich spontan von den Sitzen und ehren Roger Federer mit einer «Standing Ovation».
«L’Ultimate Combat», der «Kampf bis zum Letzten», ist verloren. Es ist keine bittere Niederlage. Es ist eine Niederlage gegen Roger Federer, gegen den Grössten aller Zeiten. «La Grande Nation» ist nicht besiegt. Sie verneigt sich bloss vor dem Göttlichen.