Stan Wawrinka besiegt Jo-Wilfried Tsonga in einem grandiosen Spiel. Zeitweise fegt er den Franzosen vom Platz. Eigentlich ist er einer, der Tennis mehr arbeitet als spielt. Aber jetzt zelebriert er phasenweise Tennis. Das leidenschaftliche Publikum ist wie paralysiert. Die Franzosen trauen ihren Augen nicht.
Vergeblich versucht Tsonga, die Fans mit Gesten aus der Lethargie, aus der «Schocklähmung» zu befreien. Es ist ein Heimspiel für den Schweizer. Obwohl die Franzosen im Stadion eine gefühlte Mehrheit von 24'000 zu 3000 haben. 1:0 für die Schweiz.
Hinterher wirkt Stan Wawrinka wie ein Alphatier. Energiegeladen. Eine französische Chronistin stellt gar fest, er habe den Platz in der Manier eines Chefs betreten. Und sie fragt, ob ihm jetzt die Leaderrolle im Team zufalle. Was er klugerweise verneint.
Roger Federer verliert sein Spiel gegen Gaël Monfils klar. Er hat nie eine Chance. Es steht zwischen Frankreich und der Schweiz nur noch 1:1. Ein Sieg Roger Federers hätte das 2:0, die Vorentscheidung gebracht. Aber jetzt ist wieder alles offen.
Er hat eine einmalige Chance, ein Held, eine Legende zu werden. Es ist möglich, dass er alleine im Doppel und am Sonntag noch einmal im Einzel für die drei Siege sorgt, die uns den Davis Cup bringen. Stan Wawrinka bei einem sportlichen Jahrhundert-Erfolg in der Haupt- und Roger Federer bloss in einer Nebenrolle.
Aber wie es auch enden wird: Roger Federer bleibt die zentrale Figur der Schweizer. Der Auftritt der beiden Tennis-Stars nach dem Spiel zeigt es auf eine faszinierende Weise. Stan Wawrinka beantwortet Fragen in englischer und französischer Sprache höflich, aber fast ein wenig einsilbig, ja knurrig.
Er wirkt auch als Sieger ein wenig struppig und knorrig. Entschlossen zwar, aber nicht strahlend. Die Leichtigkeit des Seins, der Hauch des göttlichen Talentes – oder das, was wir Charisma nennen – fehlen ihm. Er wirkt auf dem Platz mehr wie einer, der Tennis arbeitet und nicht spielt. Mehr Läufer und Kämpfer. Und so wirkt er auch neben dem Platz.
Roger Federer verliert sein Spiel gegen Gaël Monfils. Es ist ein rauschendes Tennisfest für die Franzosen. Jetzt ist die Arena fest in ihrer Hand. Weil die Laola-Welle durchs Rund braust, wird das Spiel nicht fortgesetzt, bis wieder Ruhe einkehrt.
Roger Federer hat also verloren und hält hinterher bei der Medienkonferenz doch Hof wie ein Sieger. Es ist eine seltene Gelegenheit live zu erleben, was Charisma eigentlich ist. Roger Federer füllt mit seiner Präsenz den Raum. Er ist ein glänzender Kommunikator mit einer sympathischen Prise Selbstironie.
Wo Stan Wawrinka kurz angebunden wirkt und manchmal nach Worten sucht, zieht Roger Federer mit seinen Ausführungen alle in seinen Bann. In englischer und in französischer Sprache. Er zelebriert seine Bescheidenheit und wirkt dadurch noch charismatischer.
Er betont, wie wichtig der Sieg Wawrinkas sei, wie sehr er sich über diesen Erfolg freue und über die Energie, die Wawrinka ins Team bringen. Davon könne auch er profitieren. Er werde die Rolle übernehmen, die dem Team am besten helfe.
Seine Rückenverletzung ist das zentrale Thema. Er sagt nicht, die Rückenverletzung habe ihn in diesem Spiel behindert. Das würde wie eine profane Ausrede klingen und den Sieg seines Gegners kleiner machen. Er spricht von einem «Geist», den er nicht ganz habe vertreiben können und meint damit die Ungewissheit, die einfach bei einer solchen Verletzung auch dann bleibe, wenn er keine Beschwerden habe.
Und lockert die Rückengeschichte mit einer launigen Bemerkung auf: Er dankt den Schweizer Fans, die diese lange Reise nach Lille gemacht haben und sagt, wie sehr er diese Unterstützung schätze: Es sei gut, die Fans «im Rücken» zu haben.
Nach diesem ersten Tag interessieren sich die Chronistinnen und Chronisten im Grunde stärker dafür, warum Roger Federer verloren hat als dafür, warum Stan Wawrinka gewonnen hat. Ja, Stan Wawrinka ist der Sieger des ersten Tages und Roger Federer der Verlierer. Und doch bleibt alles, wie es ist. Kein Wechsel an der Spitze des Schweizer Tennis-Rudels. Roger Federer bleibt der Leitwolf. Mag kommen, was will: Stan Wawrinka wird nie aus dem Schatten Roger Federers treten können.