Die Finger waren immer das schwierigste. In mühseligster Kleinarbeit musste die Schere immer wieder neu justiert werden, um sie um die Finger zirkeln zu können – stets darauf bedacht, das Zeitungspapier nicht unwiderruflich zu beschädigen. Denn wer weiss schon, wann Tim Henman das nächste mal im Sportteil des Tages Anzeigers erscheinen wird?
Der ausgeschnittene Tim wurde anschliessend Collage-artig sorgfältig an die Schlafzimmerwand zu den anderen Tims gepinnt. Jeder Ausschnitt ein kleiner, rarer Schatz für meine Kinderseele, die sich zu dieser Zeit sicher war, selbst einmal die Tennisbühne zu erobern. Einzig, ob ich bei einem allfälligen Aufeinandertreffen mit Henman im Wimbledon-Final absichtlich verlieren würde, war noch Gegenstand hitziger gedanklicher Debatten.
Dabei hätte es anfangs der 2000er so viel dankbarere Tennis-Idole gegeben. David Nalbandian zum Beispiel, der mit einer Killer-Mentalität, chirurgischer Präzision und der ikonisch eingesprungenen Rückhand zum Angstgegner des ganzen Tenniszirkus wurde. Oder Lleyton Hewitt, der so rotzfrech und energiegetränkt spielte, wie er aussah. Weitere Möglichkeiten wären auch Sonnyboy Gustavo Kuerten oder Badboy Marat Safin gewesen. Oder eben Roger Federer, seines Zeichens erster Schweizer Gott.
Aber nein, es wurde Tim Henman. Der anständige, höfliche, harmlose Tim Henman. Ein Grundlinienspiel, so aufregend wie eine VWL-Einführungsvorlesung; ein Aufschlag, so prickelnd wie eine Steuererklärung. Dazu ein Haarschnitt, der gerade so gut Max Mustermann gehören könnte. Und mit Slazenger schliesslich ein Racketsponsor, der über den Sex-Appeal einer AGB verfügt. Das war mein grosses Idol.
Auch wenn seine Aura von einer beinahe aggressiven Durchschnittlichkeit geprägt war, so war seine Spielweise in gleichem Ausmass wahnwitzig. Just in jener Zeit, in der sich der Tennisplatz zur Manege für Grundlinien-Magier und Spielrhythmus-Generäle entwickelte, pflegte Henman die hoch riskante Spielvariante Serve and Volley. Ob aufgrund eines traditionalistisch-nostalgischen Pflichtgefühls oder einer neurotischen Veranlagung, weiss niemand so genau.
Sein Netzspiel, das er ebenfalls der Pragmatik und nicht dem Spektakel verschrieb, hievte ihn bis auf den vierten Rang der Weltrangliste, bescherte ihm elf Turniersiege, sowie Grand-Slam-Halbfinals – vier davon in Wimbledon. Eine Karriere ohne Wiedererkennungswert, ohne jegliches Echo. Aber dieser Brite hatte einfach etwas. Das wusste ich schon damals. Heute weiss ich, was dieses Etwas war.
Ich würde es als bestrebte Genügsamkeit beschreiben. Es war etwas, das sich auch gezeigt hat, als ich als Zwölfjähriger an den Swiss Indoors in Basel 2005 auf sein Autogramm wartete, nachdem er in der ersten Runde gegen einen jungen Schotten verlor. Irgendwas mit Murray. Er signierte meinen Tennisball mit einem Gleichmut, einem Unverständnis – als könne er den Sinn dahinter nicht verstehen. So sah denn auch seine Signatur aus. Eher lustloser Strich, denn ein Name. Den Ball habe ich glaub kurz darauf irgendwo verloren.
Nicht vom Charisma eines Lleyton Hewitt geküsst, noch nicht mal von einem Hauch des unfassbaren Talents von Roger Federer gesegnet. Keine Strahlkraft. Vor allem aber kein Interesse an dieser Strahlkraft. Gib dich für nichts aus, was du nicht bist. Du spielst gut und gerne Volley? Dann tue es. Verlierst du, hast du vielleicht das Spiel, aber nicht dich selbst verloren. Und das kann man verkraften. Als Spieler und auch als Fan.
Es ist das authentische, wahre Sterben in Schönheit. Etwas, das im leistungsorientierten, zahlengetriebenen Sport mittlerweile verboten scheint.
Unter dem Strich heisst das Folgendes: Der bissige Charakter von Hewitt war eindrücklich, aber für mich nicht realistisch, weil es fernab meines Naturells war. Nalbandians Abgebrühtheit machte ihn erfolgreich, aber nicht wirklich menschlich, geschweige denn sympathisch. Und Federers Talent ist derart jenseits des Normalen, dass er eher Lichtgestalt als greifbares Idol ist. Steter Erfolg als Vorbild ist irgendwann ein wenig zermürbend.
Henman war einfach Henman. Und zeigte dem kleinen Jodok auf, dass es jenseits von technischen und taktischen Idealtypen noch genügend Platz für jene hat, die ohne Trara und Kinkerlitzchen einfach Serve and Volley spielen. Einfach weil sie es gerne tun. Und das tat ich. Ich liebte diese Spielweise und praktizierte sie inbrünstig. Inbrünstig und vor allem zum Leidwesen der Geduldsfäden meiner Tennistrainer, der Nerven meiner Mutter und meiner eigenen Aspirationen, auch mal auf der ATP-Tour zu spielen. Spass hat's derweil gemacht.
Dass Niederlagen und Enttäuschungen ein steter Bestandteil des menschlichen Werdegangs sind, konnte man definitiv eher mit Henman, denn mit Federer lernen. Ebenso die Tatsache, dass diese süssen Siege, die märchenhaften Geschichten für die Ewigkeit nun mal nicht umsonst Märchen heissen, dass es schlicht Idealszenarien sind, deren Eintreffen einer wahrhaftigen, kaum antizipierbaren Sensation gleichkommen. Dies vermittelten Übermenschen wie Federer eher weniger. Bei ihm gab es gefühlt zehn Märchen. Pro Saison. Ein ungesunder Orientierungspunkt für einen jungen Burschen.
Dass Henman selbst im Zuge seiner Karriere und im Kontext des britischen Urbedürfnisses nach einem lokalen Wimbledonsieger – dem ersten seit Fred Perry 1936 – immer mehr zum tragischen Helden verkam, rundet diese organische Schönheit, die auf die bestrebte Genügsamkeit folgt, ab.
Dazu gegeisselt fremde Hoffnungen zu schultern, ohne das spielerische Werkzeug zu besitzen, die dies bewerkstelligen können, trug er diese Bürde stets mit Haltung. Denn sie können ja selber nicht wissen, wie kleinlich und unbegründet ihre Hoffnungen sind. Und nein, nur weil's märchenhaft schön wäre, heisst das nicht, dass es deswegen auch einfach so passieren wird. Auch in vier Anläufen nicht. Kommt klar damit. Auch du, Jodok.
Der Henman-Hill in Wimbledon, einst ein Stillleben der britischen Hoffnung auf einen britischen Champ, ist mittlerweile zum Murray Mountain geworden. Murray hat ihnen ihren Sieg geschenkt.