Fussball ist in England heilig. Und der Boxing Day noch heiliger. Traditionell treten die Teams der vier höchsten Ligen der Insel dann zu einer Vollrunde an. Dabei achten die Spielplanmacher darauf, dass die Fans nicht im halben Land herumreisen müssen, damit alle trotzdem die Weihnachtsfeiern geniessen können und nicht schon am frühen Morgen des Stephanstag aus den Federn müssen, um ihre Lieblinge live im Stadion zu sehen. Kurze Reisen, hohe Einnahmen – so das inoffizielle Motto.
Natürlich hat sich mit der grossen Kommerzialisierung alles etwas verändert, aber von den Partien am 26. Dezember schwärmen die Fans weiterhin. Eine spezielle Stimmung herrsche dann in den Arenen. Früher hiess es auch, dass man mehr Tore für sein Geld kriegt.
Darum ist die Enttäuschung gross, als der Boxing Day 1962 praktisch auf der ganzen Linie dem massenhaften Schneefall zum Opfer fällt. Nur drei Partien finden statt. Und auch die kommenden Wochen bieten kaum Fussball, zu garstig sind die Bedingungen. Der Ligabetrieb kommt erst im März wieder so richtig in Schwung.
1963 sind die Befürchtungen ähnlich. England erlebt mit dem «Big Freeze» einen der kältesten Winter der Geschichte. Der ganz grosse Schnee bleibt jedoch aus und die Teams der Division One (Vorgänger der Premier League) sorgen für warme Herzen. Sie stellen in zehn Partien mit 66 Treffern einen Rekord für die Ewigkeit auf. 6,6 Tore pro Spiel – das gab es nie zuvor und hat es seither nie mehr gegeben. Die «Daily Mail» titelt am nächsten Tag: «Verrückte, verrückte, verrückte, verrückte Fussballwelt am Boxing Day. Die Verteidiger waren im Geschenkemodus.»
Besonders ins Auge sticht dabei das 10:1 von Fulham gegen Ipswich. Die Gäste wurden mit einer sehr ähnlichen Mannschaft immerhin 18 Monate zuvor noch Meister. In dieser Saison steigen die Ostengländer aber mit 121 kassierten Gegentoren in 42 Partien am Ende ab.
Nicht zu halten ist an diesem Tag Fulhams schottischer Nationalspieler Graham Leggat. Viermal netzt er ein. Seine ersten drei Treffer erzielt der «White Whirlwind» (weisser Wirbelwind) innerhalb von nur dreieinhalb Minuten, er erhöht knapp bis zur 20. Minute von 1:0 auf 4:0. Schneller schaffte bis am 16. Mai 2015 – und Sadio Manés Kunststück in 2:56 Minuten – kein Spieler in der höchsten englischen Liga einen Hattrick.
Den Grund für das Stängeli findet Fulham-Boss Bedford schnell: «Es muss an diesen leckeren Truthähnen gelegen haben, welche wir den Spielern zu Weihnachten schenkten. Ab jetzt erhalten sie wöchentlich einen.» Ipswich-Chef John Cobbold kommentiert mit typisch britischem Humor: «Das Spiel hätte auf beide Seiten kippen können. Bis es angepfiffen wurde.»
Trost erhält er Jahre später von Fulham-Angreifer Alan Mullery, welcher den neunten Treffer erzielte und sich für ESPN einst erinnerte: «Es gab immer verrückte Resultate rund um Weihnachten. Man konnte es nicht erklären. Aber oft hast du hoch gewonnen oder brutal verloren. Ipswich verfügte damals auch über eine starke Mannschaft. Es war einfach einer dieser Tage.»
«Einen dieser Tage» erwischen auch weitere Teams:
Natürlich kommt bei diesen Resultaten die Frage auf: Haben sich da einige Spieler über die Festtage zu sehr gehen lassen? Aus dem Schneider ist Chelsea. Das Team bereitete sich am 25. Dezember in einem Hotel am Meer auf das Spiel vor.
Auch Tottenham und Liverpool scheinen nicht über die Stränge gehauen zu haben. Bei den «Spurs» habe ein Verantwortlicher schon vor dem Spiel die Zimmer durchsucht, jedoch zumindest keinen Alkohol gefunden. Und bei Liverpool erklärt der legendäre Bill Shankly seinen Spielern vor den Festtagen: «Ihr könnt Weihnachten im Sommer feiern. Dann könnt ihr euch gehen lassen, wenn ihr wollt.» Die Spieler hörten offensichtlich zu.
Übrigens: Der Spielplan will es, dass viele der Teams schon zwei Tage später wieder aufeinander treffen. Viele Tore fallen dann nicht mehr. Immerhin kann sich ManU mit dem 5:1 an Burnley rächen und Ipswich siegt nach der 1:10-Schmach zwei Tage später 4:2.