Auf der einen Seite die Zürcher Grasshoppers, der Rekordmeister und Rekordcupsieger. Auf der anderen Seite das kleine Wil, ein Niemand im Schweizer Fussball. Die Ausgangslage vor dem Cupfinal 2004 ist sonnenklar: Alles andere als ein GC-Triumph wäre eine faustdicke Überraschung.
Die Ostschweizer machen zwar nach ihrem Aufstieg in die Super League 2002 von sich reden, schlagen beispielsweise den «grossen Bruder» FC St.Gallen im Kantonsderby mit dem Eishockey-Resultat von 11:3. Doch wenige Tage nach jenem historischen Sieg platzt im November 2002 die Bombe: Präsident Andreas Hafen hat seinem Arbeitgeber UBS 51 Millionen Franken gestohlen.
Einen grossen Teil des Geldes, rund elf Millionen Franken, hat Hafen in den FC Wil gesteckt. Kritische Stimmen nach der Herkunft der Millionen liess er stets verstummen, indem er auf Investoren verwies, die absolut anonym bleiben wollen. Wer zu sehr nachbohre, gefährde weitere Investitionen in den Klub. Weil dies niemand wollte, liess man Hafen gewähren.
Wenigstens sportlich läuft es auch nach dem Auffliegen rund. Dank des vergleichsweise teuren, «zusammengestohlenen» Kaders schafft es Wil locker, in der Super League zu bleiben. Einige Monate später gerät der Ostschweizer Kleinklub indes vom Regen in die Traufe. Der Ukrainer Igor Belanow steigt ein, Europas Fussballer des Jahres 1986. Mit Gefolgsleuten übernimmt er im Sommer 2003 den Verein und wechselt beinahe die ganze Trainercrew aus. Als Wil den Cupfinal-Rasen in Basel betritt, ist Belanow aber bereits wieder Geschichte.
Kaum hat der Cupfinal begonnen, führt der Aussenseiter auch schon. Der Brasilianer Rogerio trifft in der 5. Minute. Doch GC wendet die Partie rasch, nach 19 Minuten und Toren von Richard Nuñez und Ricardo Cabanas steht es 2:1 für die Hoppers. Zur Pause steht es aber 2:2, weil Pascal Castillo den Wiler Felix Mordeku am Leibchen zurückhält und Fabinho den fälligen Penalty verwertet. Ausgerechnet Fabinho, der in den Wochen vor dem Endspiel verletzt war und kaum trainieren konnte.
Weil Hitzkopf Mihai Tararache kurz vor dem Halbzeitpfiff mit Gelb-Rot vom Platz fliegt, bestreitet GC den Rest der Partie mit einem Mann weniger. Und Wil nutzt die Gunst der Stunde. Als Aleksandar Mitreski in der 78. Minute im Strafraum ein Handspiel begeht, ist Fabinho zur Stelle, um erneut aus elf Metern zu treffen: 3:2 – Wil ist Cupsieger!
Als «geistigen Vater des Erfolgs» bezeichnet der Defensivspieler Patrick Winkler den Co-Trainer Stephan Lehmann. In den Wirren um Belanow und Co. ist er, der in Wil eigentlich bloss Goalietrainer ist, plötzlich zur wichtigsten Bezugsperson der Spieler im ganzen Trainerstaff geworden; wichtiger als der offizielle Trainer Joachim Müller.
Vor dem Final motiviert Lehmann seine Spieler mit einem speziellen Video. Grussbotschaften von Familienmitgliedern der Akteure mischt er mit der Musik von Robbie Williams. Der britische Sänger beschreibt im Video auch, wie er sich auf ein Konzert mit 125'000 Zuschauern vorbereitet. «So wollte ich den Spielern die Angst oder den Respekt nehmen», verrät Lehmann nach dem Triumph. Denn die wenigsten Wiler Spieler wussten, was sie in einem Cupfinal erwartet.
Goalie Daniel Lopar zum Beispiel ist erst knapp 19-jährig – fünf Jahre vor dem Cupfinal stand er noch bei den C-Junioren des FC Romanshorn im Kasten. «Wir haben von der ersten Minute an uns geglaubt», betont Lopar und Davide Callà ergänzt: «Das Video war ausschlaggebend.»
Nach dem Triumph folgt ein rauschendes Fest in der Wiler Altstadt. Der Höhepunkt der Klubgeschichte ist zugleich der Abschied von der grossen Schweizer Fussballwelt. Wenige Wochen später ist der Abstieg des FC Wil in die Challenge League besiegelt. Im UEFA-Cup scheitert der Cupsieger in der ersten Qualifikationsrunde an Banska Bystrica aus der Slowakei.
2012 darf der FC Wil vermelden, dass er schuldenfrei ist – rund ein Jahrzehnt nach den Zeiten von Hafen und Belanow. Längst sind die Ostschweizer ein Challenge-Ligist, der Jahr für Jahr Talente ausbildet und sie in die Super League weiterreicht.
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