Vor der NHL-Saison 1994/95 liegen sich Spieler und Teambesitzer in den Haaren. Der Start zur Saison fällt wegen des Vertragsstreits ins Wasser, die Stars suchen anderswo Beschäftigung. Die Schweizer Nationalliga A zieht etwa Doug Gilmour (SC Rapperswil-Jona) oder Chris Chelios (EHC Biel) an.
Auch Jaromir Jagr spielt in Europa Eishockey. Der Superstar der Pittsburgh Penguins läuft für «seinen» HC Kladno auf (11 Spiele, 22 Punkte), für den Südtiroler HC Bozen (6 Spiele, 16 Punkte) – und an einem Abend für die Schalker Haie. Eine Etage unter der DEL, 1. Eishockey-Liga Nord, Heimspiel in der Emscher-Lippe-Halle gegen den Herner EV.
Spielertrainer Peter Fiala überzeugt seinen Freund, doch einmal für seine Mannschaft in Gelsenkirchen aufzulaufen. Es ist, wie wenn ein Ferrari plötzlich bei einem Seifenkistenrennen auftaucht. Jagr ist zweifacher Stanley-Cup-Sieger und ein unglaublicher Stürmer. In seinen ersten vier Saisons in der NHL hat er 371 Skorerpunkte gesammelt.
Doch Starallüren kennt der Vokuhila-Träger nicht. «Er war unfassbar normal», erinnert sich in den deutschen «Eishockey-News» sein damaliger Mitspieler Patty Schmitz. «Jagr hat sich sofort eingefügt und war einer von uns. Er war ein richtig guter Typ.»
Eine Anekdote des langjährigen Finanzchefs des Klubs belegt Jagrs Bescheidenheit. «Ich habe ihn persönlich vom Flughafen abgeholt und wir hatten die teuerste Suite im Maritim-Hotel gebucht», schildert Gerd Meyer im «Reviersport». Vergeblich. «Er wollte lieber bei Fiala pennen, obwohl der gar kein zweites Bett hatte. Am Ende hat er dann dort auf einer Liege geschlafen.»
Bloss 27 Sekunden dauert es, bis der Besucher von einem fernen Planeten am Abend des Dreikönigstags 1995 das 1:0 erzielt. Hernes Torhüter beendet den Abend mit einem Sonnenbrand im Nacken, so oft leuchtet die Torsirene hinter ihm auf. Am Ende heisst es 20:5 für Schalke – Jagr hat elf Skorerpunkte auf dem Konto. Nach dem frühen Treffer begnügt er sich, seine Mitspieler in Szene zu setzen, zu zehn Toren gibt er das Zuspiel.
«Wie der die Tore aufgelegt hat, das war schon unglaublich», staunt Finanzchef Meyer noch mit vielen Jahren Abstand. «Da musste man nur noch den Schläger hinhalten, selbst ich hätte noch fünf Stück gemacht und ich kann überhaupt kein Eishockey spielen.»
Dabei habe der Superstar vor dem Spiel über Adduktorenprobleme geklagt, weiss Schalke-Keeper Christoph Kleckers noch. Er sei nur bei 60 Prozent, habe Jagr gesagt. Das reicht in dieser Liga locker. Kleckers: «Trotzdem war das Eishockey aus einer anderen Welt. Wenn er gegen einen Verteidiger gespielt hat, war er bereits drei Meter an dem vorbei, bevor der sich nur umgedreht hatte.»
Jaromir Jagr betrachtet seinen Auftritt als Freundschaftsdienst an Kumpel Fiala und nicht als ernstzunehmendes Engagement. Auf eine Gage verzichtet er deshalb angeblich. «Das einzige, was er haben wollte, war ein Jägerschnitzel mit Pommes und Mayo», verrät Finanzchef Meyer. Allerdings kostet die Versicherung eine Stange Geld. Für die drei Stunden von 20 bis 23 Uhr gilt die Police, für welche die Schalker 7000 Dollar bezahlen – damals rund 8500 Franken. Da geht man lieber kein Risiko ein. Fischbach schickt vor dem ersten Bully die Eismaschine ein zweites Mal raus, «damit er nicht zu früh aufs Eis geht.»
Vielleicht ist die Anekdote mit dem Znacht als Gage auch nur die halbe Wahrheit – fast zu schön, um wahr zu sein. Auf seiner Website schreibt der Klub, Jagrs Gehalt sei durch verschiedene Sponsoren finanziert worden. Das besagte Jägerschnitzel wird Jagr jedenfalls nach dem Spiel in der Kabine serviert. Denn dort schreibt der Stürmer mit der legendären Rückennummer 68 geduldig bis ein Uhr nachts Autogramme und posiert für Erinnerungsfotos. Nicht nur mit den Fans, auch mit den Mitspielern. «Wir waren alle schon lange umgezogen, als er erst Zeit fürs Duschen hatte», hat Patty Schmitz noch im Kopf.
Dann ist der einmalige Spuk vorbei. Am Morgen nach dem Kantersieg im Gelsenkirchener Stadtteil Buer-Erle macht sich Jaromir Jagr im Auto auf nach Kladno, rund sieben Stunden dauert die Fahrt vom Ruhrpott in die Nähe der tschechischen Hauptstadt Prag. Lange bleibt er nicht, denn im Vertragsstreit in der NHL erfolgt eine Einigung. Der Lockout endet Mitte Januar und bei seiner Rückkehr nach Pittsburgh nimmt Jaromir Jagr seine Form aus den europäischen Gastspielen mit: Erstmals gewinnt er die Art Ross Trophy für den Skorerkönig der Regular Season.
Weniger schön endet die Saison für die Schalker Haie 87. Zwar überstehen sie die erste Playoff-Runde, doch danach zieht sich der Klub aus finanziellen Gründen aus der Liga zurück. Heute existiert als Nachfolgeverein der EHC Gelsenkirchen.
Der «ewige» Jaromir Jagr spielt immer noch Eishockey, seit 2018 wieder in seiner Heimat Kladno – wo ihm auch der Klub gehört. Nur ein Spieler sammelt in der NHL-Geschichte noch mehr Skorerpunkte als er: der grosse Wayne Gretzky. Jagrs unfassbare Statistiken in der besten Eishockeyliga der Welt: 1921 Skorerpunkte in 1733 Spielen der Regular Season und 201 Skorerpunkte in 208 Playoff-Spielen.
15 Jahre nach Jaromir Jagrs One-Night-Stand gibt es auf Schalke erneut Eishockeystars zu sehen – an der WM 2010 im Fussballstadion. Mit 77'803 Zuschauern wird bei Deutschlands 2:1 nach Verlängerung über die USA ein neuer Weltrekord aufgestellt.
Mittlerweile steht dieser Rekord für das Eishockeyspiel mit den meisten Fans bei 105'491. So viele kamen am Neujahrstag 2014 bei der NHL Winter Classic zwischen den Detroit Red Wings und den Toronto Maple Leafs ins Michigan Stadium von Ann Arbor.
Seine Antwort: Mach halt!
Nettes Detail: Er war zu dem Zeitpunkt Single, sie nicht