Etwas windig ist es in Reconvilier. Grau ist der Himmel, wenig einladend wirkt das Dorf. Doch das darf keine Rolle spielen, als ich mich beim Bahnhof in meine Pedale einklinke. Ich bin ja nicht als Tourist im Berner Jura. Mir geht es darum, eine meiner Etappen an der Tortour kennenzulernen.
«Velofahrer haben einen an der Waffel.» Seit ich vor ein paar Jahren auf den Geschmack gekommen bin, bekomme ich diesen Satz oft zu hören. Man muss nicht einmal wie mein Kollege Reto Fehr während vier Monaten quer durch die ganze Schweiz fahren, um ihn zu hören. Es genügt schon, in den Frühlingsferien auf Ibiza statt ins Pacha in den Veloverleih zu gehen. Und es genügt im heissen Juli schon, statt gemütlich auszuspannen, lieber bei 36 Grad im Tal auf hohe Pässe zu fahren. Umgehend bekommt man zu hören, man sei nicht ganz normal. Lustig, dass man das in einer Gesellschaft hört, in der eigentlich niemand als «normal» gelten will, denn normal bedeutet oft auch langweilig …
Mitte August werde ich an der Tortour teilnehmen, einem Nonstop-Rennen rund um die Schweiz. Die 1000 Kilometer können alleine zurückgelegt werden (reflexartig wollte ich «die sind nicht ganz normal» dazu schreiben), zu zweit, im Vierer- und im Sechser-Team. Ich werde gemeinsam mit fünf Kollegen an den Start in Schaffhausen gehen. Einige Etappen werden wir gemeinsam zurücklegen, auf anderen ist nur ein Fahrer unterwegs und die anderen können sich erholen. Diese Variante ist zwar anstrengend, aber auch für reine Hobbyfahrer wie mich machbar, wie ich bei der ersten Teilnahme vor zwei Jahren feststellen durfte.
Nach einem Kilometer bin ich bereits am Dorfrand von Reconvilier und auf einen Schlag ändert sich die Umgebung. Der Himmel ist immer noch grau, aber die Sicht ist nicht schlecht. Links und rechts Wiesen, ein paar Bauernhöfe: Wunderbare Bilderbuch-Schweiz. Es geht hinauf, ich komme gut voran. Saules, Saicourt, Le Fuet: Noch nie gehört, die Namen dieser Käffer. Bald bin ich oben, nun geht's nach Bellelay. Auch noch nie gehört, dabei doch so berühmt: Hier kommt der «Tête de Moine» her, der berühmte Käse. Wieder was fürs Leben gelernt.
Um für die Tortour fit zu sein, habe ich fleissig trainiert. Nach der Frühschicht, vor der Spätschicht, an freien Tagen, in den Ferien sowieso. Schon im Januar draussen wenn's ging, seit dem Mai drei, vier Mal pro Woche. So sind bis jetzt 3200 Kilometer zusammengekommen: viel, und doch wenig. Viel für mich, denn Ende Juli hatte ich noch nie so viele Kilometer auf dem Tacho. Wenig für andere, denn wer die Tortour alleine absolviert, der hat wohl locker 10'000 Kilometer und mehr gemacht.
Das Kennenlernen meiner Jura-Etappe geht weiter. Von den Mönchen und ihrem Käse geht's hinunter – durch eine beeindruckende Schlucht, die Gorges du Pichoux. Ich bin in Sachen Geografie wirklich nicht unterbelichtet, aber die kannte ich als Ostschweizer nicht. Während ich es auf einem kurzen Flachstück rollen lasse, danke ich den Tortour-Organisatoren in Gedanken dafür, dass ich dank ihrer Streckenführung von der Schlucht erfahre.
Schade, dass ich nicht stoppen kann will. Schliesslich teste ich, ob die vom Teamchef errechnete Marschtabelle realistisch ist. Ansonsten halte ich bei meinen Ausfahrten oft an, um Fotos zu schiessen. Gerade bergauf bieten sich kurze Fotostopps immer als gute Ausrede an, wenn man mal kurz verschnaufen will …
3200 Kilometer auf dem Velo: Da gibt es jede Menge Zeit, sich Gedanken zu allem Möglichen zu machen. Zum Beispiel zur Frage, ob ich einen an der Waffel habe. Wer würde das schon von sich behaupten. Aber zweifellos wären weniger Kilometer zusammengekommen, wenn ich nicht an diesem Rennen teilnehmen würde. Dabei geht es uns ja nicht einmal um den Sieg, vielmehr um ein gutes Erlebnis und ums Durchkommen. Doch auch dafür müssen die Beine in Form gebracht werden.
Nun bin ich im Kanton Jura und ich muss darüber lachen, was ich in Courfaivre sehe. Eine Frau, etwa 50 Jahre alt, schaut aus dem Stubenfenster ihres eher schäbigen Hauses und raucht eine Zigarette. Das Klischee vom Jura als Armenhaus der Schweiz passt in diesem Moment. Ich stelle mir vor, dass auf der französischen Version von RTL II gerade Werbung läuft und die Frau rasch zurück auf der Couch sein will.
Bald bin ich in Delémont, im jurassischen Hauptort. Ich befahre ein Stück Schweizer Fussballgeschichte: Die Brücke, welche direkt am Stade de la Blancherie vorbeiführt und auf der damals zu NLA-Zeiten jeweils stets viele geizige Zuschauer standen. In Delémont sind sie vielleicht auf den Hund, ganz sicher aber auf den Kreisel gekommen. Elf Stück muss ich durchfahren, muss mir meine Route einprägen. An der Tortour steht kein Streckenpersonal, das Rennen wird im gewöhnlichen Alltagsverkehr durchgeführt. Sogenannte Marshalls sind auf Töffs unterwegs und beobachten Polizisten gleich das Verhalten der Teilnehmer. Wer an einem Stopp nicht anhält, wer die Verpackung seines Energieriegels wegwirft oder für wen ein rotes Lichtsignal dunkelgrün ist und dabei erwischt wird, der erhält eine Zeitstrafe aufgebrummt.
Nun beginnt der mühsame Teil meiner Jura-Etappe. Nach Delémont geht es während rund 20 Kilometern sanft bergan. Auch wenn mir das als schwerem Fahrer besser liegt als ein steiler Anstieg, mag ich es nicht besonders, wenn es scheinbar ewig nach oben schleicht.
So muss die Umgebung wieder mithelfen, dass die Zeit vergeht: Auf zwei Einwohner scheint in diesem Landstrich ein Rotlicht-Etablissement zu kommen. Einer hat mit weisser Farbe auf einer Strassentafel «Bernois» unter «Bienvenu dans le Jura» geschrieben. Da am Waldrand verrichtet ein Fuchs sein Geschäft – hat ihn der Hase versetzt? In Crémines gibt es einen Zoo und in Gänsbrunnen entdecke ich auf einer Hinweistafel, dass man sich hier in einem Tanksäulenmuseum vergnügen kann. Wie zur Bestätigung meines Gedankens dazu lese ich später im Internet: «Das Sammeln von Tanksäulen ist eine Faszination, wie man sie fast nicht beschreiben kann.» Und dann gibt es Menschen, die uns Velofahrer für abnormal halten …
Okay, ein kleines bisschen muss ich all diesen Menschen ja recht geben. Ich verbringe tatsächlich oft Zeit auf dem Velo. Oder schraube am Velo herum. Oder stelle schöne Routen fernab meines Wohnorts zusammen. Oder surfe im Internet, um neue Ausrüstung zu kaufen. Oder ich schaue Tour de France, man orientiert sich ja stets an den Besten der Besten. Dabei habe ich eine Gemeinsamkeit mit Chris Froome entdeckt. Tempo (er ist viel schneller), Gewicht (er ist viel leichter) und Trikotfarbe (ich habe kein gelbes) sind nicht identisch. Aber ich halte, wenn ich auf die Zähne beissen muss, ebenfalls meinen Kopf leicht schräg.
Dass man – wie bei jedem zeitaufwändigen Hobby – auf eine verständnisvolle Partnerin angewiesen ist, versteht sich von alleine. Als ich durch Welschenrohr gefahren bin, Matzendorf und Laupersdorf hinter mir gelassen habe und in Balsthal auf den Bahnhofplatz einbiege, wartet dort meine Freundin. Lachend erzählt sie, eine halbe Stunde vor mir sei schon ein Velofahrer mit einem Tortour-Trikot angekommen und dessen Partnerin habe ihm geholfen, das Velo im Kofferraum zu verstauen.
Meine Freundin und ich machen nun dasselbe. Ich weiss nicht erst seit Balsthal, was ich an ihr habe. Eine Woche nach der Tortour wird sie meine Frau sein. Ich habe ihr versprochen, in den Flitterwochen kein Velo zu mieten. Sonst heisst es ja noch, ich sei nicht ganz normal.