Muriel Furrer wuchs im Zürcher Oberland auf, lebte in der Gemeinde Egg und lieh der Rad-Weltmeisterschaft in Zürich als Botschafterin ihr Gesicht. Obwohl sie als Juniorin nicht im Fokus der Öffentlichkeit stand, bleiben die Weltmeisterschaften für immer eng mit ihrem Namen verbunden.
Denn am Donnerstag, 26. September, stürzte sie in einer Linkskurve in einem Waldstück oberhalb von Küsnacht, zog sich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu und starb tags darauf im Universitätsspital Zürich.
Tödliche Stürze sind im Radsport leider keine Seltenheit. Vor etwas mehr als einem Jahr starb Gino Mäder, der wie Furrer im Kanton Zürich wohnte. Auch er stürzte in einer Linkskurve, auch er erlitt dabei ein Schädel-Hirn-Trauma, und auch er erlag am Tag darauf seinen schweren Verletzungen.
Der Unterschied zwischen den beiden Unfällen ist, dass Furrer nach ihrem Sturz mindestens eineinhalb Stunden verletzt im Wald lag, ohne dass ihr Unfall bemerkt wurde. «Wie kann eine Fahrerin einfach so vom Radar verschwinden, während eines Rennens in einem Vorort der Stadt Zürich?», fragte ein Journalist nach der Weltmeisterschaft. Und Rennorganisator Olivier Senn antwortete: «Es darf nicht passieren, aber es kann passieren.»
Unterdessen besteht weitherum Konsens, dass es und wie es zu verhindern gewesen wäre, dass Furrer so lange schwer verletzt im Wald liegen blieb: mit GPS-Tracking, also mit der Ortung von Fahrerinnen über einen Sender, dessen Position über einen Satelliten präzise bestimmt werden kann.
«Rückblickend wäre es eine perfekte Lösung gewesen», sagte Olivier Senn, der sportliche Leiter des lokalen Organisationskomitees, am 2. Oktober im Zürcher Kongresshaus. Es klang nach: Hinterher ist man immer klüger.
Als Christian Sailer diesen Satz hörte, rang er um Fassung. Denn im Vorfeld der Weltmeisterschaften hatte er den Organisatoren angeboten, genau ein solches GPS-Tracking für die Rennen zu vermitteln. Und erst noch gratis.
Der 44-Jährige ist Lehrspezialist an der Eidgenössisch Technischen Hochschule (ETH) in Zürich und hat zwei Leidenschaften: Er ist ein begeisterter Rennvelofahrer, organisiert als Co-Präsident des Veloclubs Horgen Rennen für Kinder und nimmt selbst an Wettbewerben teil. Und er ist Experte für Geo-Informationssysteme (GIS), arbeitete lange Zeit als Geoinformatiker für die Firma Esri Schweiz, die digitale Karten entwickelt.
2012 brachte er seine beiden Leidenschaften beim Langstreckenrennen Tour d'Afrique zusammen, bei dem man auf eigene Faust von Kairo nach Kapstadt fährt. Sailer dokumentierte seinen Rennfortschritt auf einer digitalen Karte im Internet, gewann das Rennen und blieb am Thema dran.
Als die Rad-WM in Sailers Heimatkanton näher rückte, besuchte er die Website der Veranstalter und war enttäuscht über die grafische Darstellung der Strecken. Sie bestand im Wesentlichen aus Youtube-Filmen, die auf Google-Earth-Animationen beruhten. Also schrieb er in den ersten Januartagen 2024 dem Zürcher Regierungsrat, Mario Fehr, eine E-Mail. Sailer duzte Fehr, weil man sich an einem Anlass in Adliswil schon die Hand geschüttelt hatte. Beide kommen aus der Region.
2014 betreute der Familienvater eine Bachelorarbeit eines Studenten, der ein Notfallerkennungssystem für Velorennen entwickelte, bei denen die Fahrer ohne Begleitfahrzeuge unterwegs sind. Es ging dabei unter anderem darum, dass Rennorganisatoren nach wenigen Sekunden den Unfall eines Fahrers erkennen, auch wenn dieser von Sicherheitspersonal oder konkurrierenden Fahrern unentdeckt bleibt.
Sailer sagt: «Schon mit diesem zehn Jahre alten System wäre es möglich gewesen, innert Sekunden festzustellen, dass Furrer nicht mehr auf der Strecke ist. Und man hätte sie auf 10 Meter genau lokalisieren können.»
Auch deshalb lässt ihn die Geschichte nicht mehr los. Die Behauptung des Weltradsportweltverbands UCI, wegen Signalunterbrüchen sei ein GPS-Tracking aktuell nicht in der Lage, alle Fahrer eines Rennens jederzeit zu lokalisieren, lösen bei ihm Unverständnis aus. Mehr noch: Er nennt es eine Lüge. Wenn ein Helikopter im Einsatz stehe, der eine Antenne mitführe, um die Signale zu empfangen, sei das praktisch ausgeschlossen, zumal in einer urbanen Umgebung wie der Zürcher Vorortgemeinde Küsnacht.
Tatsächlich stand ein Helikopter für die TV-Produktion im Einsatz. Auf Anfrage von CH Media schreibt das Schweizer Fernsehen, es habe «zu keinem Zeitpunkt» über Positionsdaten verfügt. Und die European Broadcasting Union (EBU) verweigert eine Stellungnahme mit Verweis auf die laufende Untersuchung der Zürcher Strafverfolgungsbehörden.
Offenbar sendeten die Tracker nur auf eine Empfängerantenne, die auf den Fernsehkameratöffs waren und einen Radius von bis zu 200 Metern abdeckten. Sie dienten primär dem Zweck, die Fahrerinnen zu erkennen und damit als Informationsquelle für die grafische Aufbereitung.
Fakt ist: Ursprünglich war angedacht gewesen, dass bei den Juniorinnen nur Transponder zum Einsatz kommen, die rechts vorne an der Gabel montiert werden sollten. Diese zeigen an, wenn eine Athletin die Ziellinie überquert oder den Ort einer Zwischenzeitmessung passiert. Beliebig orten lässt sich ein solcher Transponder nicht. Allerdings kamen letztlich keine Transponder, sondern unter den Sätteln montierte Tracker zum Einsatz.
Das heisst: Alle 120 Fahrerinnen führten ein entsprechendes Gerät mit, das ein Tracking ermöglicht hätte. Doch bei der Verwendung dieser Daten für öffentliche Visualisierungen stellt sich die UCI quer. So auch im Fall von Christian Sailer. Wobei unklar ist, wie stark sich das Organisationskomitee beim Weltverband für das Anliegen eingesetzt hat.
Sailer gewährt CH Media Einsicht in seinen Mailverkehr und erzählt seine Geschichte. In der Email an Regierungsrat Mario Fehr schilderte er im Januar seine Beobachtung, dass es in Sachen Strecken-Visualisierung «noch Luft nach oben» gebe, verwies auf seine Expertise und bot an, Vertreter des OK, GIS-Verantwortliche der Stadt sowie des Kantons Zürichs und Entwickler seines ehemaligen Arbeitgebers Esri «einmal an einen Tisch zu bringen».
Sailer hatte ein ehrgeiziges Ziel. Er wollte, dass die WM in Zürich eine bessere Visualisierung bekommt als das bedeutendste Radrennen der Welt, die Tour de France. Auf der Website der französischen Landesrundfahrt können Fans alle Fahrer jederzeit live auf Karten und Höhenprofilen verfolgen. Zum Einsatz kommt dabei auch Technologie von Sailers ehemaligem Arbeitgeber Esri. Sailer schwebte vor, für die WM etwas ähnliches zu entwickeln, allerdings nicht zwei-, sondern dreidimensional.
«Eine Live-Visualisierung des Sports in realistischer 3D-Visualisierung würde das Spektakel sichtbarer machen. Das Rennen auf dem Handy oder am Screen würde nicht nur die Fans am Streckenrand entzücken, sondern eben allen Online-Usern weltweit zugänglich machen», schrieb Sailer an Fehr. Und ihn trieb noch ein anderer Aspekt um: die Sicherheit.
In der E-Mail heisst es: «Dank der realistischen Visualisierung und des mobilen Zugangs über das Handy kann jede und jeder schnell und einfach sich informieren und Entscheidungen treffen, was für die Anwohner, KMUs, Spitäler, Fans und so weiter von Vorteil wäre.»
Brisant an Sailers Vorschlag: Es hätte weder die Stadt noch den Kanton Zürich noch das lokale Organisationskomitee noch den Radweltverband UCI etwas gekostet. Gemäss Sailer wäre die Geoinformationsfirma Esri bereit gewesen, das Projekt gratis als «Showcase» zu realisieren, weil Stadt und Kanton Zürich bereits Kunden sind, die über Lizenzen verfügen. So visualisiert die Firma etwa den Strassenlärm in der Stadt Zürich auf einer 3D-Karte.
Sailer bekam auf seine erste E-Mail eine schnelle Antwort aus dem Sport- und Sicherheitsdepartement und wurde telefonisch kontaktiert. Dann habe er lange nichts mehr gehört. Im Juni, rund drei Monate vor Beginn der WM, meldete er sich noch einmal beim lokalen Organisationskomitee.
Noch immer schwebte Sailer eine 3D-Visualisierung vor, «interaktiv, live und mit den modernsten Basiskarten». Die Zeit sei zwar langsam knapp geworden, doch zumindest eine 2D-Lösung wäre «so einfach und in einer Woche gebaut» gewesen. Deshalb nahm er noch einen Anlauf und schlug erneut einen Austausch mit dem Organisationskomitee und Esri vor.
Zwar verstrich wieder eine Woche, doch dann kam tatsächlich doch noch Bewegung in die Sache. Das Projekt stehe und falle mit der Verfügbarkeit der Positionsdaten der Fahrerinnen und Fahrer, hiess es im internen E-Mail-Verkehr zwischen Mitgliedern des OK. Vielleicht bestehe die Möglichkeit, über Swiss Timing und die UCI an die Daten zu gelangen.
Am 23. Juni, fast fünf Monate nach der ersten Kontaktaufnahme, und drei Wochen nach Sailers letztem Anlauf, antwortete der Gesamtprojektleiter der Rad-WM ausführlich und machte Sailer wenig Hoffnung. Der Umfang und die grafische Darstellung einschliesslich der Positionen von Fahrerinnen und Fahrern, sei «aufgrund von präzisen Abläufen und Protokollen» eng mit der UCI und deren Fernsehabteilung sowie der Europäischen Rundfunkunion EBU und dem Host Broadcaster abgestimmt.
Und: «Gemäss uns vorliegenden Informationen – wir haben bei der UCI in dieser Angelegenheit nachgehakt – gibt es daran nichts zu rütteln und daher keine Möglichkeit, zusätzliche Visualisierungen einzuspielen. Das gelte primär für die Rennen der Regelathletinnen und -athleten in Zürich.
WM-Renndirektor Olivier Senn hat wiederholt durchblicken lassen, dass er für den Einsatz zusätzlicher Technologie empfänglich gewesen wäre, den Organisatoren wegen reglementarischer Auflagen der UCI aber die Hände gebunden waren. So untersagt der Weltverband, zu Gunsten der Spannung, bei Weltmeisterschaften auch den Einsatz von Funk.
Fakt ist: Lösungen wie jene Sailers sind nicht neu und es gibt sie schon seit Jahren. Doch von der UCI sind sie offenbar nicht gewollt.
Gemäss dem Weltveloverband UCI bieten die eingesetzten GPS-Tracker nicht die Möglichkeit, den Standort aller Fahrer zu jeder Zeit zu verfolgen. «Die Daten werden nämlich nur dann erfasst, wenn sie sich in Reichweite einer Relaisantenne befinden, oft auf einem Motorrad während eines Rennens», heisst es in einer Stellungnahme. Die Verbesserung der GPS-Ortungsgeräte gehöre zu den Aspekten, die in Zusammenarbeit mit den Akteuren des Radsports und ihren Dienstleistern untersucht würden.
Interesse an Sailers Idee zeigten die Organisatoren der WM durchaus. Allerdings eher für die Paracycling-Rennen, wie der Gesamtprojektleiter im Sommer schrieb. Man habe sich intensiv dazu ausgetauscht. Doch: «Die UCI insistiert jedoch, dass sie hinsichtlich einer weiteren Prüfung und allfälligen Genehmigung des Projekts noch zusätzliche Informationen braucht.» Dem angeschlossen waren sechs Fragen.
Sailer antwortete keine 24 Stunden später und legte offen, dass er dazu noch weitere Abklärungen treffen müsse. Er war nun sichtbar irritiert, dass man sich nie auf jenen informellen Austausch einliess, den er von Anfang an vorgeschlagen hatte. Er schrieb: «Im Januar hatten wir noch einen konkreten Plan», teilte er mit. «Jetzt ist es halt schon sehr knapp.»
Am selben Tag teilte der Leiter Kommunikation mit, er übernehme das Dossier, «da ich die TV-Belange mitkoordiniere». Er nehme Antworten zu den offenen Fragen entgegen, um diese mit Kolleginnen und Kollegen der UCI, der EBU sowie unserer Produktionsfirma zu besprechen.
Hier versandet der Austausch. Kontakt hatte Sailer mit den Organisatoren erst nach der WM wieder, Anfang Oktober, knapp zwei Wochen nach Muriel Furrers Tod. Diese räumten ein, es «scheint unbestritten», dass technische Lösungen «vermutlich geholfen hätten». Die Kompetenz zur Einführung und Nutzung liege aber «wie in der früheren Korrespondenz mit Ihnen ausgeführt» bei der UCI. Sie machten fehlende Zeit und «noch zu viele andere offene Aspekte» dafür geltend, dass es zu keiner Lösung kam. «Das ist bedauerlich, war aber leider nicht zu ändern.»
Man werde Sailer und seine Partner gerne empfehlen, «sollten die UCI oder Swiss Cycling uns dazu kontaktieren». In seiner letzten Antwort zeigte Sailer Verständnis für «die aktuellen Herausforderung» und dafür, dass man «realistischerweise zwei Jahre früher hätte beginnen sollen».
Kurz nach der Weltmeisterschaft sagte Renndirektor Olivier Senn, das Sicherheitskonzept sei gut, die Rennstrecken und deren Sicherung «auf höchstem Niveau» gewesen. Es sei nun an der Staatsanwaltschaft, zu ermitteln, ob Fehler passiert seien. Senn sagte: «Stürze lassen sich in unserem Sport nie ganz verhindern.» Sollten die Ermittlungen ergeben, dass Fehler gemacht worden seien, «übernehmen wir als Organisator und ich persönlich selbstverständlich die Verantwortung», sagte der 54-Jährige.
Schon damals machte er klar, dass er sich für den Einsatz von Technologie starkmache und sich dafür beim Radsportweltverband einsetzen werde: «Wir müssen aus diesem und den letzten Unfällen lernen und Änderungen für die Zukunft anstossen. Es ist unser Antrieb, hier Druck zu machen.»
Mit einem GPS-Tracking, wie es Christian Sailer vorgeschwebt hatte, wäre Muriel Furrer schneller gefunden und versorgt worden. Ob das ihr Leben gerettet hätte, ist allerdings offen. (aargauerzeitung.ch)
https://www.flymaster.net/tracker
90mm lang, 100g schwer, SOS Button.
Zu Beginn des Rennen werden die Verteilt und am Schluss wieder eingesammelt.
Ausserdem sollten sich Fahrer so organisieren können, dass sie Minimalstandards einfordern. Das hat bei anderen Sportarten durchaus sehr gut funktioniert.
Warum fordert man immer Eigenverantwortung ausser bei Profis? Können sich diese nicht für ihre Rechte einsetzen?