Ein Schweizer Cyclocross-Fahrer im wunderschönen Regenbogentrikot? Lang ist's her. 1998 wurde Michael Baumgartner bei den Junioren Weltmeister, drei Jahre vorher Didi Runkel bei der Elite. Er triumphierte in Eschenbach SG, als die WM zum letzten Mal in der Schweiz ausgetragen wurde.
Nun findet die Heim-WM in Dübendorf ZH statt – und ein Schweizer hat gute Chancen auf den Titel. Kevin Kuhn hat in diesem Winter den Gesamtweltcup der U23-Kategorie für sich entschieden, bei drei Weltcuprennen jubelte er ganz zuoberst auf dem Podest. «Es liegt sicher alles drin», weiss Kuhn. «Mein Ziel ist eine Medaille, mehr geht immer.» Gleichzeitig dämpft er die hohen Erwartungen im Umfeld: «Im Weltcup hat man gesehen, dass die Rennen recht offen waren. Es gibt viele Fahrer, die gewinnen können.»
Nationaltrainer Bruno Diethelm traut seinem knapp 22-jährigen Schützling alles zu. «Kevin hat bewiesen, dass er das kann und dass er nervenstark ist.» Diethelm schwärmt von Kuhn in den höchsten Tönen: «Wenn ich meinen Wunschathleten beschreiben müsste, dann wäre es genau so einer wie er. Ein Athlet, der bereit ist, für sein Rennen Verantwortung zu übernehmen. Einer, der sagt, dass er mitbestimmen will, wie das Rennen läuft, der Tempo und Taktik bestimmt und der kein verhaltenes Rennen will.» Kuhn sei mit seiner Art auch ganz klar ein Teamleader.
Der gelernte Elektroinstallateur setzte in diesem Winter erstmals voll auf die Karte Radsport. Wobei er nicht davon spricht, dass er deshalb ein Profi sei: «So würde ich mich nicht bezeichnen. Ich nahm unbezahlten Urlaub und lebte von den Ersparnissen.» Nach den Weltmeisterschaften gönnt sich der Zürcher Oberländer aus Gibswil zwei Wochen Ferien, ehe er wieder arbeiten wird. Das ist auch nötig, denn vom Preisgeld allein kann Kuhn nicht leben. «Für einen U23-Weltcupsieg gibt es 175 Euro. Die gehen dann fürs Benzin drauf.»
Diese Saison ist so gesehen vor allem auch eine Investition in die Zukunft. Kuhn hat gezeigt, was in ihm steckt, wenn er sich ganz auf den Sport fokussieren kann. «Komischerweise hatte ich zwar immer noch den ganzen Tag zu tun. Aber ich hatte mehr Zeit für die Erholung, konnte dadurch auch besser trainieren und etwas mehr. Dass ich aufgehört habe zu arbeiten, war bestimmt ein Schlüssel zum Erfolg.»
Was nach dieser Saison kommt, ist offen. Er werde im Sommer nochmals Mountainbike-Rennen fahren und im kommenden Winter erneut aufs Radquer setzen. «Aber das ist noch Zukunft, im Moment habe ich nur das WM-Rennen am Samstag im Kopf.»
In diesem ist morgen um 13 Uhr mit einem tiefen Terrain zu rechnen. «Das könnte mir entgegenkommen», sagt Kuhn, dem solche Bedingungen zusagen. Der eher flache Kurs auf dem Flugplatz in Dübendorf gefällt ihm ebenfalls: «Für mich ist er top.»
Und der viele Schlamm? «Ich bin von klein auf bei jedem Wetter Velo gefahren und hatte immer Spass dabei. Das ist geblieben und wenn ich dabei dreckig werde, ist mir das egal. Zumindest bis ich am nächsten Tag alles putzen muss … das ist dann etwas weniger lustig.» Auch die Goldgräber im Wilden Westen mussten sich durch Dreck wühlen, um ihr Ziel zu erreichen.
Beim Gespräch zwei Tage vor dem WM-Rennen wirkt Kevin Kuhn locker, und er selber sagt, dass bei ihm vor allem grosse Vorfreude herrsche. «Nervosität kommt dann vermutlich kurz vor dem Start auf.» Dass viele von ihm etwas erwarten, sei für ihn eine neue Situation. «Aber ich denke, dass ich gut damit umgehen kann. Den grössten Druck mache ich mir wohl selber.»
Ihm sei es gut gelungen, in den letzten Tagen die nötige Ruhe zu finden, ergänzt Kuhn, der wie die anderen Schweizer Fahrer im Hotel in Dübendorf übernachtet. «Das ist schon angenehmer, als wenn man acht Stunden im Auto sitzt, um zu einem Rennen zu kommen.»
Auch seine Fans freuen sich, dass sie nicht weit reisen müssen. Er habe von sehr, sehr vielen Leuten gehört, dass sie kommen würden, freut sich Kuhn. Bestimmt gehört auch seine Freundin dazu: Nicole Koller. Als Mountainbikerin kennt sie sich im Radsport aus. Die 22-Jährige hofft, sich für die Olympischen Sommerspiele zu qualifizieren. Aber zuerst soll nun in Dübendorf gefeiert werden.
Belgien und die Niederlande bestimmen die Sportart beinahe nach Belieben. In der Elite-Kategorie der Männer gewannen bei den letzten zwölf WM-Rennen immer nur Belgier und Holländer die Medaillen – mit einer Ausnahme: Zdenek Stybar. Der Tscheche gewann in dieser Zeit 3-mal Gold und 2-mal Silber.
Zuletzt dominierten der Holländer Mathieu van der Poel (Weltmeister 2015 und 2019) und der Belgier Wout van Aert (Weltmeister 2016, 2017 und 2018). Die beiden, die auch auf der Strasse sehr erfolgreich sind, gehören in Dübendorf selbstredend zu den Favoriten. Stybar verzichtet auf die WM.
«Die Saison hat schon gezeigt, dass van der Poel absolut der Stärkste ist», sagt Kevin Kuhn. Doch gerade an Weltmeisterschaften habe er auch schon Schwächen gezeigt. «Deshalb würde ich es nicht ausschliessen, dass ein anderer gewinnt.»
Nationaltrainer Bruno Diethelm hofft, dass die Gegner mutig sind. «Seine Gegner machen es van der Poel manchmal auch einfach. Wenn er angreift und ein Loch da ist, begnügen sie sich mit dem Kampf um Rang 2, anstatt zu versuchen, die Lücke zu schliessen.» Von den Schweizer Fahrern ist Timon Rüegg am meisten zuzutrauen. «Die Top 10 liegen drin», glaubt Diethelm. «‹Timi› ist in Form», stellt sein Freund Kuhn fest.
Neben Kevin Kuhn besitzt die Schweiz im U23-Rennen der Männer mit Loris Rouiller noch einen zweiten Trumpf. Und im U19-Rennen gilt Dario Lillo als Medaillenkandidat.
Nachdem das Radquer mit dem Aufkommen des Mountainbikes in der Versenkung verschwand, geht es nun wieder aufwärts mit der Disziplin. Seit einiger Zeit gibt es Gerüchte, wonach Radquer olympisch werden könnte – an Winterspielen. «Es gibt Anzeichen, dass Olympia nicht ganz so weit weg ist wie auch schon», sagt Thomas Peter, der Sportdirektor von Swiss Cycling.