Es gibt noch etwas zu tun. Bevor Gino Mäder an der Vuelta a España startet, organisiert er sich einen E-Reader. «Wir haben im Team darüber diskutiert, wann sich ein E-Reader ökologisch lohnt im Vergleich zu normalen Büchern. Wir haben festgestellt, dass dies schon relativ rasch der Fall ist. Darum kaufe ich mir jetzt einen», erzählt Mäder.
Das Buch von Bill Gates «Wie wir die Klimakatastrophe verhindern» hat er noch auf Papier am Flughafen gekauft. Und er hat es schon fast gelesen.
Vielleicht zeigt dieser Widerspruch – am Flughafen ein Buch über den Klimawandel zu kaufen – gut den Gegensatz im Leben von Mäder auf. Der 24-Jährige ist Veloprofi, möchte aber so ökologisch wie möglich leben. Er isst vegetarisch, weil er dem Planeten nicht noch zusätzlich schaden möchte. Er schlägt dem Team wenn immer möglich Zugreisen vor. Doch oft besteigt er dennoch ein Flugzeug.
Sich als Veloprofi zu diesen Themen zu äussern, findet er schwierig. «Unser Leben ist alles andere als ökologisch», sagt er. «Für ein einziges Rennen bin ich nach Japan an die Olympischen Spiele geflogen. Das gibt mir ein schlechtes Gewissen.» Was er dagegen tut? «Ich versuche mich zu informieren und zu verstehen, was ich beitragen kann. Ich mache lieber Taten, als nur darüber zu reden.»
Gino Mäder ist ein besonnener Mensch und keiner, der grosse Sprüche klopft. Wenn er etwas gefragt wird, hält er zunächst inne, ehe eine auf den Punkt gebrachte Antwort kommt. «Ich bin zurückhaltender als andere Veloprofis, aber nicht minder ehrgeizig. Ein bisschen draufgängerisch muss man in unserem Sport sein.»
Ehrgeizig und draufgängerisch ist Mäder durchaus. Sicher dann, wenn er auf dem Velo sitzt. Er ist eines der grössten Talente im Radsport und Teil einer jungen starken Schweizer Generation. Aber Mäder brauchte anders als sein Kollege Marc Hirschi ein bisschen länger, um bei den Profis Fuss zu fassen. «Das war schon immer so. Marc kam in jede Junioren-Stufe und war erfolgreich. Ich brauchte immer eine Zeit der Anpassung», sagt der Oberaargauer, der in Zürich wohnt.
Doch in dieser Saison klappt es. Zweiter Rang bei der Königsetappe von Paris–Nizza, und je ein Etappensieg beim Giro d’Italia und an der Tour de Suisse. «Ja, Erfolge sind da», sagt Mäder. «Doch sie kommen noch überraschend. Was mir fehlt, ist bereit zu sein, wenn ich es mir vornehme.»
Daran möchte er arbeiten. Sein Ziel ist es, dereinst ein Kandidat für Gesamtsiege zu sein. Sein grosser Traum ist der Sieg des Giro d’Italia. Seine Voraussetzungen sind ideal, doch «es ist mir noch nie gelungen, bei den Profis eine ganze Rundfahrt konstant gut zu fahren». Er weiss, dass er es kann. 2018 hat er bei der U23 in der Tour de l’Avenir den dritten Platz belegt.
An der am Samstag beginnenden Vuelta greift Mäder, gemeinsam mit Johan Jacobs der einzige Schweizer im Feld, nicht nach dem Sieg. Seine Rolle kann dafür alles beinhalten, ob Wasserträger oder Etappensieger. Fährt er gut, darf er Alleingänge wagen. Kämpft er sich durch, muss er seinen spanischen Captain Mikel Landa unterstützen.
Dass Mäder überhaupt Veloprofi wurde, hat viel mit einem Abend zu tun, als er 16 Jahre alt war. Sein Vater eröffnete ihm, dass er sich von der Mutter trennen und ausziehen werde. An jenem Abend entschliesst sich Mäder, Profi zu werden. «Ich wollte, dass meine Eltern zusammen am Streckenrand stehen», erzählt er. Das Ziel ist aufgegangen, seine Eltern verfolgen ihn meist gemeinsam. Schon zum Velofahren ist er durch seine Eltern gekommen. Beide waren einst selber lizenziert, hatten sich in Tenero kennen gelernt. «Der Velosport war bei uns omnipräsent.»
Als Mäder klein ist, liest er über seinen Lieblingssport vor allem Dopinggeschichten. Heute wirkt es im Gespräch glaubhaft, wenn er sagt, er verabscheue Doping. «Müsste ich Doping nehmen, würde ich aufhören.» Und er fügt hinzu: «Ohne den Radsport wäre ich nicht verloren.» Auch dies glaubt man ihm, weil es spürbar ist, dass sich Mäder für mehr interessiert als nur für seinen Sport. Er mag Mathematik und eignet sich durchs Lesen grosses Wissen an. Gerne beschäftigt er sich mit Themen, die weit grösser sind als der Sport.
Es überrascht darum wenig, dass er sich kritisch mit seinem Arbeitgeber auseinandersetzt. Sein Team Bahrain wird vom Königreich aus dem nahen Osten finanziert. Dem Regime werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. «Das macht nachdenklich», sagt Mäder. «Doch das Team wurde für einen guten Zweck gegründet: Das Ziel ist es, mit dem Veloteam etwas gegen das Übergewicht im Land zu unternehmen. Es soll Leute dazu animieren, Sport zu treiben.»
Er ist so ehrlich, zu sagen, dass das Angebot des Teams Bahrain das einzige war. Veloprofi zu sein und moralisch stets richtig zu handeln: Es ist nur schwer in Einklang zu bringen. Aber Gino Mäder versucht es.