Nadine Fähndrich ist kein mentaler Elefant im Porzellanladen. Grosse Sprüche oder Ankündigungen waren nie ihr Ding. Lange haftete der 27-Jährigen der Ruf an, sie sei zu nett, eine Grüblerin und Zweiflerin. Bisweilen hatte man in ihrer Spezialdisziplin Sprint den Eindruck, sie lasse lieber einmal einer Gegnerin den Vortritt, als im Zweikampf resolut die Ellbogen auszufahren. Aus Gerangeln kam sie selten als Siegerin heraus.
Unbestritten waren stets ihr Talent und der Wille, besser zu werden. Und das tat die Innerschweizerin Schritt für Schritt. Der Gewinn der Silbermedaille im WM-Sprint von 2021 in Oberstdorf zusammen mit Laurien van der Graaff war exemplarisch für das Potenzial und gleichzeitig die mentale Verletzlichkeit von Nadine Fähndrich.
Im Halbfinal schied das Schweizer Duo beinahe aus, Fähndrich wirkte unterwegs wie blockiert. Zwei Stunden später lief sie, als würde es kein Morgen geben. Entschlossen, überzeugend, erfolgreich.
Heute denkt die schüchterne Luzernerin gross. Hiess es früher von ihr nach einem vierten Rang schon mal, sie habe sich nichts vorzuwerfen, so sagt sie vor ihrem grossen Auftritt im WM-Sprint heute (Qualifikation ab 12 Uhr, Finals ab 14.30 Uhr): «Wenn ich keine Medaille gewinne, werde ich sehr enttäuscht sein – selbst wenn ich mir nichts vorzuwerfen hätte.»
Zum neuen Denken von Nadine Fähndrich gehört auch, dass sie im Vorfeld der Olympischen Spiele in China ein professionelles Management mit an Bord holte. Ihr neuer Betreuer ist der Münchner Dominik Leu, der zuvor viele Jahre lang an der Seite von Dario Cologna arbeitete. Leu sagt: «Nadine und Dario sind von ihrer Art und Weise sehr ähnlich – bodenständig und sehr fleissig.»
Auch er hat einen Wandel im Denken bei Nadine Fähndrich festgestellt: «Sie hat sich lange permanent in Frage gestellt. Nun macht sie ihr Ding. Dass sie zum Beispiel nach der Enttäuschung bei Olympia sofort wieder positiv dachte und dann auch die Skimarke wechselte, wäre vorher schlicht undenkbar gewesen. Sie wäre nie auch nur zu Testzwecken auf einen anderen Ski gestanden.»
Bereits im vergangenen Winter in Peking hatte Nadine Fähndrich Grosses vor. Wieder einmal versagten im entscheidenden Moment aber die Nerven und sie spürte im Rennen eine grosse Müdigkeit, ausgelöst durch ihre Nervosität. Heute sagt sie: «Ich habe mir lange Zeit eingeredet, ich dürfe mich nicht unter Druck setzen. Das war falsch.»
Nun macht es ihr nichts mehr aus, wenn man sie nach insgesamt drei Sprint-Weltcupsiegen in diesem Winter als eine der Favoritinnen auf WM-Gold bezeichnet. «Ich selbst träume ja auch von dieser Medaille. Sie ist in meinem Kopf und will sie von dort auch nicht verdrängen.»
Aber sie könne vom Traum nun sehr schnell wieder zur konkreten Handlung wechseln und sich fragen, welche Arbeit sie als nächstes zu erledigen habe und was sie dafür tun müsse, um diesen Traum in Erfüllung gehen zu lassen. «Ich bin viel lockerer als vor Olympia. Ich habe jetzt einen Plan für das Rennen im Kopf und gleichzeitig die Flexibilität, auf verschiedene Situationen reagieren zu können.»
Geholfen habe neben dem durch die Siege gesteigertem Selbstvertrauen auch die mittlerweile grosse Erfahrung. Sie habe jede erdenkliche Situation bereits einmal in einem Rennen erlebt. Auch auf den Instinkt könne sie sich mittlerweile verlassen. «Ich denke, ich habe für alle Fälle eine Lösung, das gibt mir Sicherheit.» Taktisch wird sich Nadine Fähndrich grundsätzlich treu bleiben. «Nur wer das Zepter in der Hand hat, kann unterwegs auch optimal taktieren», sagt sie.
Ihr sportlicher Fokus reicht bis zu den Olympischen Spielen 2026 in Mailand. Mit Olympia hat sie schliesslich noch eine Rechnung offen.
Fähndrich hat zuletzt in Toblach mit einem vierten Platz über 10 km Freistil unterstrichen, dass auch in den Distanzrennen nicht viel für einen Rang auf dem Podest fehlt. Sie will auch weiterhin sowohl Sprint- wie Distanzrennen bestreiten. «Dort hole ich mir das Stehvermögen und die Leistungskapazität, damit ich während den maximal vier Einsätzen im Sprint körperlich nicht abbaue. Auch hier habe ich grosse Fortschritte erzielt.»
Neben den Eltern, Nachbarn und einigen Fans wird sie in Planica auch ihr langjähriger Freund Elvis Fazliu an der Loipe anfeuern. Wie ist es übrigens, einen Lebenspartner zu haben, der aus einer Region ganz ohne Bezug zum Nordischen Skisport stammt? Nadine Fähndrich lacht. «Bei einem unserer ersten Treffen sagte er mir, er habe sich nicht vorstellen können, dass jemand Langlauf als Sport betreibe. Heute schaut er sogar Rennen, wenn ich nicht dabei bin.»