Sie schüttelte immer wieder den Kopf. Sie realisierte nicht, was sie da eben vollbracht hatte. «Im ersten Moment war ich schockiert», sagte Alice Robinson nach ihrem Coup. Dass ihr Erfolg kein Traum, sondern Realität war, begriff sie spätestens, als ausgerechnet Mikaela Shiffrin Komplimente in ihre Richtung verteilte. «Sie ist heute schlicht unglaublich gefahren. Ihr zuzuschauen, macht Spass.»
Die eigene Verwunderung der Überraschungssiegerin war verständlich. Im Teenager-Alter ein Weltcup-Rennen zu gewinnen, ist bereits aussergewöhnlich. Wenn diese Halbwüchsige dann noch aus Neuseeland kommt, wohin es die Alpinen zwar für die Trainingslager im Sommer zieht, wo der Skirennsport aber nicht sonderlich hohe Wellen wirft, dann ist das Erstaunen umso grösser.
Bisher hatten es aus dem Land der Kiwis und Schafe nur Vereinzelte im Weltcup ganz nach vorne gebracht. Genauer gesagt zwei, nämlich die Slalom-Spezialistinnen Annelise Coberger und Claudia Riegler.
Deren Erfolge liegen allerdings schon eine Ewigkeit zurück. Coberger, mit Wurzeln in Deutschland, und die im Salzburgerland zur Welt gekommene Riegler mischten die Konkurrenz zu einer Zeit auf, da war Robinson noch nicht einmal geboren. Den zuvor letzten Sieg einer Neuseeländerin hatte Riegler vor fast 23 Jahren, Anfang Februar 1997, in Laax errungen.
Robinson schaffte dennoch noch nie Dagewesenes. Nachdem sie schon mit ihrem 2. Rang im Riesenslalom beim Saison-Finale im März in Soldeu in Andorra für das grosse Erstaunen und den ersten Podestplatz einer Neuseeländerin in der Basis-Disziplin gesorgt hatte, holte sie nun, in ihrem erst elften Einsatz auf dieser Ebene, zum ganz grossen Schlag aus. Sechs Hundertstel entschieden am Ende zu ihren Gunsten, nachdem sie nach dem ersten Lauf noch 14 Hundertstel hinter Shiffrin gelegen hatte. Die drittklassierte Französin Tessa Worley verfehlte die Wiederholung ihres Vorjahressieges um 36 Hundertstel.
Robinson war vier Jahre alt, als sie mit ihrer Familie von Sydney nach Queenstown auf die neuseeländische Südinsel umsiedelte. Ihre erste sportliche Heimat war Coronet Peak, mittlerweile hat sie ihre Basis während der Wintermonate im Fassa-Tal im Trentino – 18'000 Flugkilometer entfernt von ihren Eltern und den zwei Geschwistern. Ihre Familie wird Robinson allerdings schon bald wiedersehen. Am Sonntag fliegt sie zurück nach Neuseeland, um die letzten Prüfungen an der High School hinter sich zu bringen.
Nach dem Abschluss der Schulzeit wird Robinson ihren Fokus vollends auf den Skirennsport richten. Ihre Einsätze werden sich schon in diesem Winter nicht mehr auf den Riesenslalom beschränken. Sie wird versuchen, auch im Super-G Fuss zu fassen. In ihrem Alltag als Skirennfahrerin weiss Robinson schon jetzt namhafte Begleiter an ihrer Seite. Ihre Trainer sind die Amerikaner Chris Knight und Jeff Fergus, die einst Lindsey Vonn zu deren grössten Erfolgen geführt haben.
Dazu ist Robinson ins Rennsport-Projekt von Red Bull integriert. Robert Trenkwalder, der Leiter des Programms, ist ebenfalls angetan vom Talent der Neuseeländerin. «Für mich gibt es fünf Frauen, die im Riesenslalom einen Schwung fahren wie sie», sagt der einstige Erfolgscoach des ÖSV. Trenkwalder trat zwar logischerweise auf die Euphorie-Bremse: «Jetzt muss sie erst mal richtig Fuss fassen.» Doch auch der Trainer-Fuchs ist überzeugt, dass an diesem Samstag in Sölden eine der kommenden Dominatorinnen im Frauen-Weltcup ihre Visitenkarte abgegeben hat. (ram/sda)