In den Augen des anderen will er es gesehen haben. Der krakeelende Geiselnehmer hatte die Pistole auf den Wachmann gerichtet, drohte abzudrücken. Thorsten Lannert (Richy Müller) drückte schneller ab. Eben weil er beim Gegenüber den Willen zum Töten wahrgenommen zu haben glaubte. Der Gangster stirbt, die Geisel überlebt, ein finaler Rettungsschuss also.
Oder doch nicht? Wenig später muss Lannert zur offziellen Anhörung beim Staatsanwalt. Ruhig schildert er den Ablauf des Supermarktüberfalls, Kommissar Sebastian Bootz (Felix Klare) hingegen ist aufgewühlt. Warum wird sein Kollege wie ein Verbrecher behandelt, obwohl er ein Leben gerettet hat? Und das unter Einsatz seines eigenen. Für ihn steht fest, dass Lannert das einzig Richtige getan hat – obwohl er selbst, Bootz, genau in dem Moment des Schusses auf dem Boden gelegen hat und gar nichts mitbekommen hat. Er sagt trotzdem für den Kumpel aus, Ehrensache. Ein Fehler.
Der ehrgeizige Anwalt Christian Pflüger (Michael Rotschopf), der die Mutter des erschossenen Geiselnehmers vertritt, kann ihn so vor sich hertreiben. Bootz' gutgemeinte Lüge könnte seinem Kollegen Lannert das Genick brechen. Der Jurist Pflüger ist ein harter Hund, er hat sich auf Opfer «polizeilicher Willkür» spezialisiert, Schwachpunkte des Gegners spürt er sofort auf.
Lannert nimmt es professionell, der Anwalt mache schliesslich auch nur seinen Job. «Mit einem Bein steht man im Gefängnis, mit dem anderen auf dem Friedhof», sagt er. Der nach einer Trennung – die Kinder sieht er nur noch jedes zweite Wochenende – sowieso schon labile Kollege Bootz stürzt sich noch tiefer in den Alkohol.
Der Rechtsstaat tut weh. Muss wehtun.
Die «Tatort»-Folge «Eine Frage des Gewissens» führt weit hinein in die schwierigen Abwägungsprozesse des Rechtsstaates: Da sind die beiden integer erscheinenden Cops, die sich unangenehme Fragen gefallen lassen müssen. Zu Recht. Da ist der perfide erscheinende Anwalt, der jeden Schwachpunkt der beiden aufzuspüren versucht. Zu Recht.
Das tödliche Szenario muss nun mal in allen rechtlichen und psychologischen Aspekten rekonstruiert werden. Der Rechtsstaat tut weh, muss weh tun.
Der Regisseur Till Endemann hat zuletzt nach einem realen Fall das Gerichtsdrama «Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz» in Szene gesetzt, der von dem vier Jahre zu Unrecht in Haft sitzenden Installateur erzählte. Das Autorenteam Sönke Lars Neuwöhner und Sven Poser hat unter anderem den aufsehenerregenden Polit-«Tatort» «Blutdiamanten» geschrieben. Neuwöhner war Co-Autor des letzten «Tatort» aus Stuttgart, einem Undercover-Knast-Schocker, Poser entwickelte für das ZDF auch die bahnbrechenden «Solo für Schwarz»-Reihe.
Die Kids kommen, Paps räumt die Flaschen weg
In ihrem «Tatort» stellen die drei Filmemacher den Glauben der beiden Polizei-Protagonisten an den Rechtsstaat auf eine harte Probe. Der Anwalt lässt nichts unversucht, ihnen schuldhaftes Verhalten nachzuweisen. Und der unter seiner Trennung leidendende Bootz bietet ihm im Verlauf der Untersuchungen auch noch Vorlage um Vorlage: Er schleppt Tüten voller Weinflaschen in die verwaiste Wohnung und sucht dann auch noch die Zeugin des Supermarktüberfalls auf – die er dann ermordet in ihrem Apartment findet.
Gerade aber durch diese Wendung nehmen die Filmemacher ihrem Justiz-Krimi den psychologischen Druck und die tragische Wucht: Statt weiter in der zermürbenden Konfrontation zwischen Gewissen und Rechtsstaat gefangen zu sein (ein Zustand, wie ihn der Film «Der Fall Metzler» bis an die Schmerzgrenze durchspielte), kriegen die Cops einen neuen Fall mit einem Täter. Sie sind nicht mehr ihrer Ohnmacht ausgeliefert, sondern aktiv bei der Jagd auf den Täter.
Für die Krimidramaturgie mag das Sinn ergeben, dem schwierigen Thema entzieht man sich dadurch. Zumal die Auflösung am Ende ganz die Parteilichkeit des Zuschauers für die beiden Kommissare wiederherstellt. Am Ende hilft der eine Kommissar dem anderen zärtlich seine Wohnung von den leeren Flaschen und Pizzapackungen zu säubern, damit sich die Kinder während ihres Besuchs bei Papa richtig wohl fühlen.
Wir wollen ja nicht sadistisch klingen, aber: Glaube an den Rechtsstaat erschüttert, Familie futsch, da hätte Bootz nach unserem Geschmack noch ein bisschen tiefer und länger ins Glas schauen dürfen.