Nicht nur OSZE-Beobachter und IKRK-Mitarbeiter machen in der Ukraine unliebsame Bekanntschaft mit Geiselnehmern. Auch die Zivilbevölkerung und Journalisten sind mit Entführungen durch prorussische Separatisten konfrontiert.
Jeden Abend steht Antonina Suchonos verzweifelt vor der Stadtverwaltung im ostukrainischen Slawjansk. Laut fragt sie sich, was mit ihrem Sohn Wadim passiert ist. «Wenn ich ihn nicht zurückhaben kann, will ich wenigstens wissen, wo sie ihn festhalten», klagt Antonina und starrt auf die Gebäudefassade aus Glas und Stahl.
Der Stadtrat Wadim wird seit dem 22. April vermisst. Er befindet sich in der Hand prorussischer Separatisten, die die Macht in der Stadt an sich gerissen haben und mit Entführungen für Angst und Schrecken sorgen.
Wadim sei wegen seiner Beziehungen zu Gegnern der Abspaltungsbewegung festgenommen worden, sagte der selbsternannte Bürgermeister von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow. «Wir passen auf ihn auf. Ihm ist nichts geschehen. Er bekommt etwas zu essen und Kleidung.» Wadim teilt das Schicksal von mindestens zwölf Ukrainern, die in den Wirren in der Ostukraine verschleppt oder gar von ihren Entführern getötet wurden.
Medien beziffern die Zahl der Verschleppten auf mehr als 40. Ponomarjows Männer hatten auch acht Tage lang Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrer Gewalt, darunter mehrere Deutsche. Ein Unterhändler der russischen Regierung bewirkte schliesslich ihre Freilassung.
In Slawjansk ist zu beobachten, wie Männer mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in und aus besetzten Gebäuden geführt werden. Ponomarjow vergleicht das Festhalten der Männer mit den Festnahmen seiner «Kameraden» durch die ukrainische Führung, die er als «faschistische Junta» bezeichnet.
Verstärkt wird das Klima der Angst durch die Entführung westlicher Journalisten - darunter Reporter der Online-Informationsdienste Buzzfeed und Vice News. Vice-News-Reporter Simon Ostrovsky befand sich im April drei Tage in den Händen der Separatisten. Er schilderte, wie er im feuchten Keller des Staatssicherheitsgebäudes festgehalten wurde, mit sieben anderen Männern in einer Zelle.
Betten habe es nicht gegeben, die Gefangenen hätten auf Mänteln geschlafen. Sie hätten eine Toilette auf dem Hof benutzen dürfen, aber jedes Mal bei Verlassen der Zelle seien ihnen die Augen verbunden worden. Die anderen Männer hätten sichtbare Spuren von Schlägen gehabt.
Schläge einstecken musste auch Witali Kowaltschuk. Seine Mutter Galina verabschiedete ihn am 17. April am Bahnhof ihrer Heimatstadt Winniza in der Westukraine. Witali wollte nach Kiew fahren, kam dort aber nie an. Einige Tage nach seinem Verschwinden zeigte der russische Sender LifeNews Bilder von ihm: Mit einem blauen Auge erklärte er, dass er mit Freunden des ukrainischen nationalistischen Rechten Sektors nach Slawjansk gefahren sei, um sich dort ein Bild von der Lage zu machen.
Mutter Galina hat sich eine Wohnung in Slawjansk gemietet, um sich für seine Freilassung einzusetzen. So kann sie jeden Tag zum Gebäude der Sicherheitsbehörden gehen, wo sie ihren Sohn vermutet. Sie fühlt sich genauso hilflos wie Antonina Suchonos: «Es ist willkürlich und einfach nur erschreckend», sagt sie. (rey/sda/reu)