Jürg Martig ist ein Hüttenwart, wie man ihn sich vorstellt. Mit Berner Oberländer Dialekt und Ausdrücken wie «ghüpft wie gsprunge» erzählt der 55-Jährige vom Leben und der Arbeit in einer Berghütte.
Jürg Martig und seine Frau Marlies führen die Blüemlisalphütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) seit 2023. Sie liegt auf dem Passübergang zwischen Kandersteg und dem Kiental, auf 2840 Metern über Meer. Niesen und Schilthorn sind in Sichtdistanz.
In den vergangenen Monaten häuften sich Medienberichte über Hüttenwartinnen, die sich über das respektlose Verhalten ihrer Gäste beklagten. Sich 15-Stunden-Tage ohne Wochenende nicht mehr antun wollen und den Bettel hinschmeissen.
Sind das Einzelfälle? Oder ist den Gästen in den Bergen wirklich der Anstand abhandengekommen? Wie geht man mit Instagram-Touristen ohne Hüttenerfahrung um, die Doppelzimmer, Duschen und WLAN erwarten? Hüttenwart Jürg Martig hat Antworten.
Jürg, du bist seit fast 15 Jahren im Berghüttengeschäft. Wie erlebst du den Umgang mit deinen Gästen?
Jürg Martig: Ich habe die Medienberichte gelesen und kann die betroffenen Hüttenwartinnen verstehen. Wenn sich Gäste so aufführen wie beschrieben, ist das sehr anstrengend. Bei mir gilt die Devise: Ich kann nicht 100 Prozent der Gäste glücklich machen. Wenn es 90 Prozent sind, ist das in meinen Augen eine gute Quote. Natürlich wollen wir immer den bestmöglichen Service bieten, alle werden wir aber nie zufriedenstellen können.
Haben sich die Anforderungen und Wünsche der Gäste über die Jahre verändert?
Definitiv. Und das ist völlig verständlich.
Meine Frau und ich sind auch froh, dass wir hier oben eine kleine Wohnung mit Schlafzimmer und Dusche haben, in die wir uns zurückziehen können, wenn wir wieder einmal 16 Stunden gearbeitet haben.
Was hat sich denn verändert?
Viele Gäste hätten heute gerne ein 2er- oder 4er-Zimmer. Das können wir nicht anbieten. In der Blüemlisalphütte haben wir zwei Massenlager mit je 20 Betten. Zehn unten, zehn oben. Dazu je zwei weitere Zimmer mit 14 und 13 Betten, ein Zehner- und ein Sechserzimmer. Es ist uns bewusst, dass das nicht mehr zeitgemäss ist. Momentan fehlt jedoch das Geld für einen Umbau, damit wir wenigstens 4er- oder 8er-Zimmer anbieten können.
Sorgt die Zimmeraufteilung für Konflikte?
Pro Saison kommt es vielleicht zwei-, dreimal zu einer Auseinandersetzung. Wenn wir ausgebucht sind, übernachten bei uns 100 Personen. Da müssen wir vorgängig eine Zimmer- und Betteneinteilung vornehmen, sonst bricht das Chaos aus. Die einen sind also oben im Massenlager, die anderen unten. Letztens haben wir einen 68-jährigen Mann in ein oberes Bett eingeteilt, weil wir das Alter unsere Gäste nicht kennen.
Das passte ihm nicht?
Genau. Er verlangte dann, dass er unten schlafen könne. Wenn wir solche spontanen Anliegen jedoch berücksichtigen, kommt jeder mit einem Sonderwunsch. Wir haben das dem Mann dreimal freundlich zu erklären versucht. Irgendwann fehlten im ganzen Trubel Zeit und Nerven, dann eskalierte die Situation kurz und wir sind verbal aneinandergeraten. Das ist eines der wenigen negativen Beispiele.
Wie steht es um den Konsum von Alkohol? Gab es Vorfälle mit alkoholisierten Gästen?
Die Anzahl solcher Vorfälle liegt im tiefstelligen Promillebereich. Um 22 Uhr ist bei uns Nachtruhe. Was es geben kann, ist ein Vereinsausflug, bei dem gefestet wird, eher von Männern als Frauen. Ich bin der Erste, der an einem Samstag mit Freunden der Meinung ist, dass der Abend um 22 Uhr erst beginnt. Eine SAC-Hütte ist jedoch nicht der geeignete Ort dafür. Natürlich sind wir aus finanziellen Gründen froh, wenn unsere Gäste Getränke konsumieren. Um Viertel vor zehn ist jedoch letzte Runde.
Das akzeptieren die Gäste?
Wir sagen es ganz freundlich und es darf auch mal 22:15 werden, bis der Letzte geht. Aber eben, wir sind eine Berghütte. Die Bergsteiger stehen bei uns um 02:30 Uhr auf, die möchten zeitig schlafen können. Auch ich habe um 22 Uhr rund 16 Stunden gearbeitet und bin froh, wenn ich mich hinlegen kann.
Du hast deine Arbeitszeit angesprochen. Arbeitest du jeden Tag 16 Stunden?
Nein. Aber 14 Stunden sind es oft. Unsere Saison dauert ein halbes Jahr. Von Juni bis Oktober ist die Hütte geöffnet, hinzu kommen je ein Monat Vor- und Nachbearbeitung. In diesen sechs Monaten arbeite ich genug für ein 100-Prozent-Jahressoll.
Was ist mit Ferien?
Ich habe ein gutes Team. Diese Saison konnte ich mir im Juli und August je eine Woche freinehmen. Da fuhren wir mit der Familie ein paar Tage weg. Zudem konnte ich von der Hütte aus als Bergführer einige Touren leiten.
Wie lange arbeiten deine Angestellten?
Unsere Angestellten arbeiten zehn Tage am Stück und haben danach vier Tage frei. Die erste Mitarbeiterin steht um 02:30 Uhr für den Zmorge der Bergsteiger auf, die letzte arbeitet bis 23 Uhr. Die tägliche Arbeitszeit von 8,5 Stunden können wir nicht immer einhalten. Es werden auch mal zehn oder zwölf Stunden. Meine Mitarbeitenden können diese Stunden aber an anderen Tagen kompensieren. Bei uns gilt das Motto: Arbeite, wenn du musst, geniesse, wenn du kannst.
Die Arbeitszeiten sind aber dennoch hart, die Bezahlung unterdurchschnittlich. Findest du genügend Mitarbeitende?
Problemlos, im Gegensatz zu Gastrobetrieben im Tal. Wenn wir eine Stelle ausschreiben, haben wir rasch 25 bis 30 Bewerbungen. Wir müssen dann diejenigen auswählen, die motiviert sind, sich den Hüttenjob aber nicht zu romantisch vorstellen. Die Angestellten schlafen in einem umgebauten Massenlager. Alle haben ihr eigenes Bett, ein Nachttischli und 1,5 Meter Abstand zum nächsten Bett. Es ist ein WG-Leben.
Habt ihr Duschen?
Nein, das können wir nicht anbieten. Unsere Gäste müssen sich mit kaltem Wasser vom Wasserhahn waschen. Es reden alle von Wasserknappheit. Ist die Hütte voll, beherbergen wir rund 100 Personen. Da wäre es etwas dekadent, auf 2800 Metern über Meer Duschen anzubieten. In den allermeisten Fällen verstehen unsere Gäste, weshalb es keine Duschen gibt. Sie wissen, dass bei uns kein Fluss vorbeifliesst. Auch Stromsparen ist bei uns ein tägliches Thema.
Weshalb?
Wir sind, was Wasser, Abwasser und Strom betrifft, autark. Unseren Strom produzieren wir mit Solaranlagen selbst. Unsere Wasserquellen sind Regenwasser und Schmelzwasser vom Schnee. Wenn das nicht reicht, müssen wir einen Gletscher oberhalb der Hütte anzapfen. Das Abwasser filtern wir mehrfach, danach läuft es in die Natur. Dazu haben wir eine Trockentoilette, dies spart sehr viel Wasser.
Könnt ihr kein Wasser hochfliegen lassen?
Das ginge schon, ist für uns aber absolut nicht wirtschaftlich und darüber hinaus höchst unökologisch. Der SAC macht bei der Nachhaltigkeit zudem Druck und fordert, dass weniger Helikopterflüge durchgeführt werden.
Wie sieht es beim WLAN aus?
Das WLAN ist bei uns nicht so ein Ding. Wir haben den Niesen und das Schilthorn in Sichtdistanz und deswegen sehr guten Handyempfang mit 5G. Das WLAN, das wir haben, ist nicht so stark, es reicht nur für den Mitarbeiter- und Hüttenbedarf. Ausländer ohne Schweizer Handyabo fragen manchmal nach dem WLAN-Passwort. In Ausnahmefällen geben wir das auch mal raus.
Ein Thema, das ebenfalls polarisiert, sind die gestiegenen Ansprüche an Hütten-Menüs. Was kannst du uns diesbezüglich erzählen?
Da muss ich kurz einleiten. Jede SAC-Hütte wurde vor 100 oder 150 Jahren ursprünglich für Bergsteiger gebaut. Da ist noch niemand gewandert. Der Wunsch der Bergsteiger war es lediglich, nicht im Freien übernachten zu müssen. Glutenfreie, laktosefreie, vegetarische und vegane Ernährungsformen waren damals noch kein Thema.
Wie geht ihr mit den veränderten Ernährungsformen der Gäste um?
Wenn Gäste aus gesundheitlichen Gründen Gluten und Laktose nicht vertragen, ist das absolut verständlich. Auch gegen Veganer habe ich nichts. In Bezug auf Nachhaltigkeit sind sie zu unterstützen. Gleichwohl wird der Aufwand für uns als Hütte immer grösser.
Wie meistert ihr das?
Wir haben eine Köchin angestellt, die ohne Probleme auf sämtliche Ernährungswünsche Rücksicht nehmen kann. Dies bedingt jedoch jeweils die Offenheit des Hüttenwarts. Nicht jeder möchte sich auf Veganer einlassen.
Bringst du diese Offenheit mit?
Ich nerve mich manchmal schon, wenn wir 100 Gäste haben und 30 davon äussern beim Essen einen speziellen Wunsch. Aber ich möchte mit der Zeit gehen und meinen Gästen einen guten Service bieten. Wir verlangen für den Zusatzaufwand aber einen Aufpreis von fünf Franken.
Gibt es, was das Verhalten eurer Gäste betrifft, Unterschiede zwischen Einheimischen und Ausländern, denen die Schweizer Bergwelt möglicherweise weniger bekannt ist?
Ich würde diesen Unterschied so nicht machen. Es gibt auch Ausländer, die oft in den Alpen unterwegs und daher sehr bergaffin sind. Unterschiede zeigen sich vielmehr zwischen erfahrenen und unerfahrenen Hüttenbesuchenden.
Inwiefern?
Die, die oft am Berg sind, wissen zum Beispiel, dass man in einer SAC-Hütte aus hygienischen Gründen in einem dünnen Seiden- oder Baumwollschlafsack schläft.
Weshalb ist das nötig?
Wir bieten Kissen und ein Duvet an, die Bettwäsche können wir jedoch nur einmal in der Mitte der Saison waschen. Dafür fliegen wir sie extra ins Tal. Die Bettwäsche ist folglich zwei bis zweieinhalb Monate drauf. Die Leute können sich ja auch nicht duschen, deswegen muss jede Person einen Hüttenschlafsack verwenden. Die kann man bei uns kaufen oder mieten. So liegt wenigstens jeder in seinem eigenen Dreck und die Bettwäsche wird nicht jeden Tag mit neuem Schweiss kontaminiert. 90 Prozent unserer Gäste ist das klar. Manchmal gibt es aber solche, die die Bettwäsche abziehen und sie uns am Morgen herunterbringen, weil sie meinen, dass sie täglich gewaschen wird.
Wenn man Gäste beherbergt und bewirtet, sind Reaktionen auf Google oft nicht weit. Wie sieht das bei euch aus?
Es ist halt so, dass dort meistens nur jene zehn Prozent der Gäste etwas schreiben, die unzufrieden sind. Negative Bewertungen ärgern mich schon. Als Inhaber der Hütte müssten wir auf Kritik ja eigentlich reagieren, dafür fehlt uns während der Saison aber oft die Kapazität. Wir sind jedoch nicht auf diese Bewertungen angewiesen und versuchen immer, einen guten Job zu machen.
Müsst ihr Werbung machen, damit eure Hütte gut ausgelastet ist? Oder läuft das von allein?
Der Oeschinensee sagt dir was?
Natürlich.
Der ging ja auf Social Media ab wie eine Rakete, die werden jetzt überfahren von Gästen, da kommt der Service nicht mehr mit. Das wollen wir nicht. Etwas kommt uns aber sicher entgegen.
Was denn?
Berghütten wurden ja für Bergsteiger gebaut, Wanderer gab es vor 100 Jahren in den Bergen noch nicht. Heute sind jedoch 95 Prozent unserer Gäste zum Wandern da, der Trend steigt, nicht zuletzt seit Corona. Davon profitieren wir natürlich stark.
Reden wir über Geld. Wie sind eure Preise festgelegt? Könntet ihr mehr verlangen?
Wir Berghütten sind eigentlich zu günstig, wenn man beispielsweise die Transportkosten und die Wetterabhängigkeit miteinberechnet. Bei uns kostet die Übernachtung mit Abendessen und Frühstück 88 Franken, für SAC-Mitglieder ab 22 Jahren 76 Franken. Es gibt ein schönes Bonmot: Jede Hütte möchte die beste sein, aber keine die teuerste. Wenn du jedoch eine Hütte führst, die sehr beliebt ist, beim Oeschinensee oder in Chamonix, da kannst du die Preise schon hoch ansetzen.
Das heisst: Finanziell kommt ihr gut durch?
Bei uns läuft es gut, aber der Umsatz kommt nicht von allein. Aufwand und Stress sind gross. Wir haben bessere und schlechtere Jahre, reich wird man mit einer SAC-Hütte nicht. Meinen Stundenlohn Ende Saison rechne ich lieber nicht aus. Ginge ich zurück in meinen Beruf als Schreiner mit einer normalen Arbeitswoche, würde ich mehr verdienen. Da arbeite ich von 8 bis 17 Uhr, habe Wochenende, bezahlte Ferien und wenn ich krank bin, erhalte ich den Lohn trotzdem. 20 bis 30 Jahre ist heute fast niemand mehr Hüttenwart. Es ist jedoch wie in den meisten Jobs: Wenn es dir Spass macht, kommt es weniger auf das Geld an.
Du bist 55 und seit bald 15 Jahren im Geschäft. Wie lange machst du noch weiter?
Wenn die Gesundheit mitspielt und die SAC-Sektion weiterhin zufrieden ist, kann ich mir gut vorstellen, die Hütte bis 60 oder sogar bis zur Pension zu führen. Nochmals eine andere Hütte zu übernehmen, steht im Moment nicht im Raum. Ich habe mit der SAC-Sektion Blüemlisalp einen Einjahres-Pachtvertrag, der sich automatisch verlängert, wenn er nicht von einer Seite bis Ende Oktober gekündigt wird. Das finde ich gut so.
Danke an alle Hüttenwarte und ihre Teams!
Zu den gestiegenen Erwartungen und Problemen mit unerfahrenen.
Wäre es nicht eine Idee während des Reservationsvorganges eine Seite zwischenzuschalten wo man zu den wichtigsten Punkten seine Zustimmung geben muss? (Kreuz machen zum bestätigen)
Bsp. „Mir ist bewusst das ich meinen Schlafplatz nicht selbst bestimmen kann?“ „mir ist bewusst das es keine Warmen duschen gibt?“
Ja alle diese Infos sind bereits auf der Webseite ersichtlich aber so ist jeder möchtegern zu 100% informiert.
Bei echten Zöliakiebetroffenen siehts schon schwieriger aus. Da muss man wirklich auf Gluten verzichten, sonst hat das gesundheitliche Konsequenzen. Aber oft verzichten eben Menschen aus Spass auf Gluten und nicht aus Notwendigkeit.
Und die Veganer können ja Brot essen.