Bereits kurz vor der Abreise der Schweizer an die WM in England geschieht schon Einmaliges. Mittelfeldspieler Philippe Pottier wird von der Liste der 22 WM-Spieler gestrichen. Weil er statt ins Trainingslager lieber mit seiner Gattin vom 25. Juni bis zum 2. Juli in die Ferien will. Was natürlich nicht bewilligt wird.
Doch das wäre nur eine Episode geblieben. Aber ausgerechnet am Vorabend des ersten WM-Spiels gegen Deutschland kommt es zur «Nacht von Sheffield». Drei Spieler – Köbi Kuhn, Werner Leimgruber und Ersatzgoalie Leo Eichmann – kehren um 23.30 Uhr, eine Stunde zu spät, ins Hotel zurück. Nachdem sie, wie die erste Variante lautete, von zwei Engländerinnen angesprochen, in das Auto der Damen eingestiegen und zu einer Kneipentour aufgebrochen sind. Die jungen Frauen werden später allerdings auch noch im Hotel gesichtet.
«Der Leimgruber, der Eichmann und ich hatten noch Lust auf einen Spaziergang. Wir gingen zur Strasse, ich hielt den Daumen hoch, und dann hielt dieses dumme Auto auch schon an. Englisch sprach nur ich, also übernahm ich das Reden», schildert Kuhn Jahre später in der «Schweizer Familie». «Natürlich hatten wir unseren Spass», erinnert sich Kuhn, «aber nicht so, wie die Leute denken. Stellen Sie sich vor: Zu fünft waren wir in diesem Mini eingepfercht. Die beiden Frauen vorne, und wir auf dem Rücksitz konnten uns zu dritt kaum bewegen. Es war eine harmlose Chalberei.»
Doch die harmlose Chalberei bleibt nicht unentdeckt. Im Hotel werden sie von Nationaltrainer Alfredo Foni empfangen. «Der Trainer hatte sich auf eine Materialkiste vor unser Zimmer gesetzt und gewartet.»
«Dottore» Foni sperrt die drei Nachtschwärmer und für Köbi Kuhn und Werner Leimgruber kommen Ely Tacchella und Richard Dürr ins Team. Ernst B. Thommen, damals nicht Präsident des Verbandes, aber FIFA-Vize und der wohl mächtigste Schweizer Sportfunktionär seiner Zeit, fleht die Journalisten, die er gerade im muffigen Rauchsalon des wolkenkratzerartigen Nobelhotels «Hallam Tower» trifft, buchstäblich auf den Knien an, den Vorfall ja nicht aufzubauschen.
Doch aus der Affäre wird ein Skandal, eine Komödie, eine Groteske. Die Verbandsführung kommt auf die Idee, die Ehefrauen der Nachtschwärmer nach Sheffield einzuladen. Das erboste die anderen Spieler, die sich ja «comme il faut» benommen haben. Sie wollen gleiches Recht und verlangen auch die Anreise ihrer Ehefrauen und Freundinnen. Das wird natürlich abgelehnt. Von da an ist das Team heillos zerstritten. Alle drei WM-Partien gehen verloren: 0:5 gegen Deutschland, 1:2 gegen Spanien und 0:2 gegen Argentinien.
Köbi Kuhn und Werner Leimgruber wollen gleich heimfliegen, können zum Bleiben überredet werden und dürfen ab der zweiten Partie wieder mitspielen. Die Verbandsgeneräle glauben, nach einem Cervelat-Essen mit den Journalisten sei die Sache erledigt. Dr. Thommen hat die Würste extra aus Basel einfliegen lassen.
Aber den Beteiligten ist die Sache danach nicht Wurst. Die «Nacht von Sheffield» weitet sich erst nach der WM zum grossen Skandal aus, der die Sportöffentlichkeit monatelang in Atem hält. Der Verband sperrt nämlich die drei fehlbaren Spieler nach der WM «auf Zeit». Die Spieler kontern mit einer Strafanzeige gegen den Zentralvorstand wegen Ehrverletzung.
Nach einer 20-minütigen Hauptverhandlung am 13. Juni 1967 beim Richteramt VI am Verbandssitz in Bern wird die «Sammelklage» gegen den Zentralvorstand auf die einzelnen Mitglieder des Zentralvorstandes ausgedehnt.
Die Fronten versteifen sich. Selbst Vermittlungsversuche von Nationalräten zeigen keine Wirkung. Der Verband ist nur gegen eine Aufhebung der Strafanzeigen bereit, die Sperren aufzuheben. Die Spieler wiederum erklären, die Strafanzeigen würden nur dann zurückgezogen, wenn die Sperren aufgehoben seien.
Am 2. April 1968 geht die «Nacht von Sheffield» nach fast zwei Jahren doch noch zu Ende. Die Fachzeitung «Sport», damals das einflussreichste Medium im Schweizer Sport, hat die Lösung gefunden. Die dreimal wöchentlich erscheinende, Ende der 1990er-Jahre eingestellte Zeitung übernimmt sämtliche Anwalts- und Gerichtskosten für beide Parteien und «kauft» so die Spieler frei. Der «Sport» tut es «dem Frieden zuliebe» und weil die Schweiz einen Weltklassespieler wie Köbi Kuhn einfach braucht.
Kuhn hat durch die «Nacht von Sheffield» elf Länderspiele verpasst. Am 18. April 1968 kehrt er in Basel beim 0:0 gegen Deutschland in die Nationalmannschaft zurück, später wird er der populärste Schweizer Nationaltrainer der Neuzeit. Bei der WM 2006 coacht er die Nati beinahe in den WM-Viertelfinal. 2019 starb «Köbi national» nach langer Krankheit.