Ist das nun schon das Ende der Zinswende nach oben, quasi die Wende in der Zinswende? Die Zinsen auf Bundesanleihen sind erst einen vollen Prozentpunkt raufgegangen, in nur drei Monaten - danach wieder einen vollen Prozentpunkt hinunter, ebenso in nur drei Monaten. Von den Bundesanleihen werden die Hypotheken jeweils mitgezogen, über kurz oder lang. Wer in diesen volatilen Zeiten seine Hypothek verlängern muss, sollte aufpassen - der Zufall kann ihn oder sie um viel Geld bringen.
Die Schweiz wird wie so oft nur hinterhergezerrt von den grossen Börsen. In New York lief es für Aktien noch bis Juni miserabel, es war das schlechteste Halbjahr seit den 1970er-Jahren. Doch dann kam der «Rebound», die Kurse drehten. Der Leitindex S&P500 ging sogleich um 17 Prozent hoch, der Technologie-Index Nasdaq gar um mehr als 20 Prozent - und damit ist es, wie die Börsianer sagen, ein «Bullenmarkt», also ein Börsen-Hoch.
Gleiches im Frankfurter Handel mit Staatsanleihen. Vorbei sei es mit dem «Schnarchfest», so die Agentur Bloomberg, jetzt werden die Anleger «gepeitscht durch einige der wildesten Schwankungen aller Zeiten». So hätten die Zinsen auf deutsche Bundesanleihen in diesem Jahr schon an fast 80 Tagen so stark geschwankt, wie dies im gesamten Vorjahr nur ein einziges Mal vorkam.
Es wirkt alles manisch, wie ein Taumeln von einem Gefühlsextrem zum nächsten. Und doch ist es rational, die logische Reaktion auf eine Zeit des Übergangs. Eine Wirtschaftswelt endet, oder könnte enden - nicht einmal das wissen die Börsianer -, und die mögliche neue Welt ist noch nicht zu erkennen. Doch abwarten können sie nicht, sie müssen handeln. Ihr Geld muss heute so anlegt sein, dass es morgen rentiert. Darum wetten sie heute schon, wie diese neue Welt sein wird.
Indikatoren zeigen, dass die Börsen auf eine Zukunft wetten, in welcher die Inflation bald nachlässt sowie die Zinsen nur noch wenig steigen und bald wieder sinken. Aktien würden dann abheben. Zugleich wissen die Börsen, kommt es anders, könnten Aktien sehr tief fallen. Was ein altgedienter Investor eine «epische Blase» nennt, könnte platzen.
Corona, eine Jahrhundertkrise, ebbt noch ab. Die Lieferketten werden neu sortiert. Die Konsumnachfrage entlädt sich noch, die sich unter den Beschränkungen aufgestaut hat. All das hält die Inflation hoch - wie lange, das muss sich erst zeigen. Derweil kommen weitere Schocks obendrauf. Weil der Westen sich von Russland loslöst, verliert er den Zugang zu dessen natürlichen Ressourcen. Das kann eine europäische Winter-Rezession zur Folge haben und auf Jahre hinaus die Preise hochdrücken. Die Abkoppelung von China und damit von der «Werkbank der Welt» kann ebenfalls die Inflation hochhalten.
Darum sei die «Great Moderation» vorbei, sagt der US-Ökonom Nouriel Roubini. Diese «Grossen Mässigung» setzte zu Beginn der 1980er-Jahre ein. Die Inflation wurde schwach und schwächer, die Zinsen sanken tief und tiefer sanken - die Aktienkurse hingegen stiegen hoch und höher. Neu gebe es die «Great Stagflation», sagt Roubini, also schwaches Wachstum, hohe Inflation - und dies gleich einige Jahrzehnte lang.
Bleibt die Inflation lange hartnäckig hoch, wird sie von den Zentralbanken mit deren wichtigster Waffe bekämpft: höhere Leitzinsen. Diese werden von den Banken sogleich weitergegeben. Geld wird so teuer, für alle. Frau Meier zahlt mehr Zins auf ihre Hypothek; Herr Müller auf den Konsumkredit; Gewerblerin Huber auf den Betriebskredit. An den Kapitalmärkten steigen die Zinsen ebenso: Grosse Firmen und Staaten zahlen mehr auf ihre Anleihen. Dann fliessen in solche Anleihen, die nun mehr Geld bringen, viel mehr Gelder hinein - abgezogen werden diese Gelder aus Aktien, worauf deren Kurse tendenziell absinken würden aus den aktuell eher luftigen Höhen.
Dies könnte langsam geschehen. Aber es könnte auch kommen, wie es an den Börsen so oft schon gekommen ist: mit einem Crash. Die Aktienkurse fallen höllisch tief.
Himmlisch könnte es dagegen werden, wenn die Zentralbanken gar nicht mehr viel tun müssten. Vielleicht noch ein bisschen hoch mit den Leitzinsen - und die Inflation ist besiegt. Schon in zwei oder drei Jahren wäre sie wieder da, wo sie die meisten Zentralbanken haben wollen, nämlich ungefähr bei 2 Prozent. Mit so einer Welt rechnen die Börsen, wie der Internationale Währungsfonds aufgezeigt hat. Es wäre in etwa wieder so wie vor Corona: Die Zinsen bleiben eher tief, auch jene auf Hypotheken. So bliebe kaum etwas anderes übrig, als vor allem in Aktien zu investieren.
Kommt es so, heben die Börsen ab, glaubt der Chef-Stratege von JPMorgan, der grössten US-Bank. Der Agentur Bloomberg sagte er: «Aktien sind in drei Jahren zurück auf einem Allzeithoch.»
Im Juli lag die Inflation in den USA bei 8.5 Prozent. Das ist zwar so viel wie zuvor in vier Jahrzehnten nicht - aber es war 0.6 Prozentpunkte weniger als im Juni. Dieser Rückgang wurde von den Börsianern sogleich als Trendwende gedeutet. Die bisherigen Leitzinserhöhungen würden schon genügen, denn der Aufwärtstrend der Inflation sei bereits gebrochen und die Inflation lasse nun weiter nach. Wie das «Wall Street Journal» schreibt, rechnet die Börse für 2023 bereits wieder mit sinkenden Leitzinsen.
Eine ähnliche Stossrichtung hat eine Analyse des Weissen Hauses in Washington verfolgt. Dessen Ökonomen haben sechs frühere Phasen hoher Inflation angeschaut und nach Parallelen zur Gegenwart gesucht. Am nächsten komme die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Wirtschaft produzierte im Krieg für das Militär; danach musste sie sich neu aufstellen. Konsumgüter waren im Krieg rationiert oder gar nicht vorhanden; danach kauften 140 Millionen Amerikaner in vier Jahren rund 20 Millionen Kühlschränke. In der Coronakrise war der Konsum mal verboten, mal eingeschränkt - es folgte ein Konsumboom. Lieferketten standen still, dann sollten sie sogleich den Boom bedienen. Darum die Schlussfolgerung: Wie nach dem Krieg ist nach Corona der Inflationsspuk bald vorbei.
Die Inflation lässt bald und schnell nach - wird aber ein Problem bleiben. Das ist die «beste Vermutung» eines Ökonomen, der zuvor korrekt vor der Rückkehr der Inflation gewarnt hatte. Olivier Blanchard war früher Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und sagt heute auf Twitter: «Die Inflation wird noch dieses Jahr nachlassen, wohl mehr als die meisten Menschen erwarten.»
Doch sie werde noch lange nicht wieder da sein, wo sie die Zentralbanken haben wollen, nämlich bei 2 Prozent. Es werden laut Blanchard vielleicht 3 oder 4 Prozent sein. Dann sei die grosse Frage, ob sich die US-Zentralbank damit zufriedengibt und den Sieg über die Inflation ausruft - oder ob sie die Inflation näher an 2 Prozent hinunterdrücken will. Je nachdem werden die Zinsen noch stark steigen, auch jene auf Schweizer Hypotheken - oder eben nicht. Und je nachdem könnten die Aktienkurse noch tief fallen - oder auf neue Allzeithöhen hochfliegen. (aargauerzeitung.ch)