Die Wirtschaftsprognosen für das laufende Jahr waren durchwegs positiv, die optimistischen Wachstumsraten für das Bruttoinlandprodukt (BIP) der einzelnen Länder unterschieden sich allenfalls um ein paar Punkte hinter dem Komma. Selbst vor ein paar Wochen erklärte Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), das Wachstum auf dem alten Kontinent «sollte sehr stark zurückkehren».
Inzwischen ist Lagarde weit pessimistischer geworden. Sie spricht nun von «signifikanten Wachstumsrisiken». Gemeint sind dabei in erster Linie zwei Dinge: Putins Krieg hat die ohnehin schon stark erhöhten Energiepreise nochmals explodieren lassen. Gleichzeitig drohen die globalen Lieferketten erneut unterbrochen zu werden, weil in China die Pandemie nur mit neuen Lockdowns unter Kontrolle gebracht werden kann.
Putins Krieg verschärft die Lieferkettenprobleme zusätzlich. So liefert die Ukraine beispielsweise 70 Prozent eines Gases, das für die Herstellung von Halbleitern gebraucht wird. Aus Russland kommt derweil Palladium, das für Katalysatoren verwendet wird. VW-CEO Herbert Diess gab daher der «Financial Times» zu Protokoll, dass ein langer Krieg in der Ukraine der europäischen Wirtschaft «viel mehr schaden» würde als die Pandemie.
Sorgen bereitet den Ökonomen zudem, dass die Zentralbanken beidseits des Atlantiks die Inflation nicht in den Griff bekommen. Sowohl die USA als auch Europa leiden unter Teuerungsraten, wie wir sie lange nicht mehr gesehen haben. Dank eines starken Frankens ist die Inflation bei uns moderat geblieben, zumindest bis anhin.
Die amerikanische Zentralbank, die Fed, hat deshalb kürzlich zum ersten Mal seit 2018 die Leitzinsen gehoben. Gestern stellte Fed-Präsident Jay Powell bereits weitere Erhöhungen in Aussicht. Experten gehen davon aus, dass der Leitzins der Fed bis Ende Jahr gegen zwei Prozentpunkte steigen könnte.
All diese Faktoren haben dazu geführt, dass sich bei den Ökonomen Unsicherheit ausbreitet. Mathias Cormann, der Chef der OECD, dem Club der reichen Länder, erklärte kürzlich gar, seine Organisation sei derzeit nicht in der Lage, den zu dieser Jahreszeit üblichen Bericht über die Lage der Weltwirtschaft zu präsentieren.
Die Pessimisten unter den Ökonomen sprechen bereits von einer Wiederkehr der Stagflation. Darunter versteht man die Kombination von stagnierendem Wachstum und hoher Inflation. Dieser toxischer Mix hat die Weltwirtschaft in den Siebzigerjahren heimgesucht und konnte erst mit einer Rosskur von hohen Leitzinsen der Zentralbanken besiegt werden.
Als führende Stimme im Lager der Pessimisten hat sich Lawrence Summers profiliert. Der ehemalige Finanzminister der Obama-Regierung und Rektor der Harald University erhebt schwere Vorwürfe an die Adresse der Fed. Die aktuelle Geldpolitik der Zentralbank «führe fast zwangsläufig in eine Stagflation mit einer Arbeitslosenquote von über fünf Prozent in den nächsten Jahren – und letztlich in eine Rezession», schrieb Summers kürzlich in seiner Kolumne in der «Washington Post».
Die Fed habe die Lage vollkommen falsch eingeschätzt, klagt Summers weiter. Die angespannte Lage am amerikanischen Arbeitsmarkt verschärfe die Inflationsgefahr zusätzlich. «Und weil auch die Preise die Lohnerhöhungen noch übertreffen werden, ist eine Lohn-Preis-Spirale zu einem ernsthaften Risiko geworden», so Summers.
Vom ehemaligen Fed-Präsidenten William McChesney Martin stammt das legendäre Zitat, die Zentralbank müsse die Punch-Bowl dann wegräumen, wenn die Party am fröhlichsten sei. Dieses eiserne Gesetz werde derzeit von der Fed sträflich missachtet, klagt Summers weiter. Sie handle nach der Maxime: «Wir räumen die Punch-Bowl erst dann weg, wenn alle so besoffen sind, dass sie kotzen.»
Summers fordert daher eine rasche Rückkehr zu den Methoden von Paul Volcker. Dieser hatte die Stagflation seinerzeit mit einer massiven Erhöhung der Leitzinsen in die Knie gezwungen. Allerdings nahm der damit eine Massenarbeitslosigkeit in Kauf. Dass ausgerechnet Summers diese Massnahmen fordert, mag erstaunen, schliesslich wird er dem Lager der Neo-Keynesianer zugerechnet.
Aus diesem Lager wird ihm jedoch auch heftig widersprochen, etwa von Paul Krugman, dem Kolumnist der «New York Times» und Nobelpreisträger. Er weist darauf hin, dass eine mit hohen Leitzinsen künstlich hervorgerufene Rezession keineswegs die einzige Möglichkeit darstellt, die Inflation zu bekämpfen. Rezessionen entstünden, so Krugman, nicht wegen Energieschocks, sondern weil die Zentralbanken zu heftig darauf reagieren würden.
Als Beispiel nennt Krugman die Jahre 2010-11. Obwohl auch damals der Ölpreis markant angestiegen war, verzichtete der damalige Fed-Präsident Ben Bernanke darauf, die Leitzinsen zu erhöhen – und wurde dafür belohnt. Die Inflation schwächte sich ab und die Wirtschaft wuchs weiter.
Auch Krugman befürwortet eine moderate Erhöhung der Leitzinsen. Gleichzeitig widerspricht er Summers Forderung nach einer Rosskur à la Volcker diametral. «Was die Fed auf keinen Fall tun sollte, ist, sich dazu nötigen lassen, zu hart auf das Bremspedal zu stehen und die Leitzinsen auf gleiche Art zu erhöhen wie in den Siebzigerjahren», schreibt er.
Tatsächlich steht heute viel mehr auf dem Spiel als Ende der Siebzigerjahre. Sie waren wirtschaftlich gesehen ein verlorenes Jahrzehnt mit anämischem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und dümpelnden Aktienbörsen. Heute hingegen befinden wir uns in den entwickelten Ländern auf einem deutlich höheren Wohlstandsniveau. Wir haben viel zu verlieren – sei es wegen Putins Krieg, oder weil die Zentralbanken überreagieren.
Vielleicht sollte man mal etwas weniger Wirtschaft wagen?
Der Umwelt würde das auch nicht schaden.