Ehrenwerte und gestandene Banker erlebten im Dotcom-Boom der 90er Jahre einen Albtraum: Sie wussten, dass die eilig auf den Markt geworfenen Aktien der Internet-Unternehmen zumeist Schrott waren. Gleichzeitig mussten sie erleben, wie der verhasste, in Finanzfragen völlig unbedarfte Schwiegersohn jedes Wochenende damit prahlte, wie er erneut viel Kohle mit eben diesen Schrottpapieren verdient hatte, während man als gewissenhafter Banker in die Röhre guckte.
Jetzt ist der Albtraum zurück. Bitcoin, Ether und eine immer grössere Schar von Coins oder Tokens boomen, obwohl es dafür keinen Grund gibt – zumindest nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten. Mit ICOs (Initial Coin Offering) und ITOs (Initial Token Offering) – beides ist das Gleiche – werden über Nacht Millionen gescheffelt, während mit Obligationen kein und mit Aktien nicht mehr viel Geld zu verdienen ist.
Es ist nicht ganz einfach, kühlen Kopf zu behalten, wenn sich der Kurs von Bitcoin innert Jahresfrist fast verfünffacht, wenn alle von Ether und seinem Schöpfer, dem Wunderkind Vitalik Buterin, schwärmen, und wenn sich mühelos ein Vermögen mit Kryptowährungen machen lässt, von denen man nicht einmal den Namen kennt. Deshalb breitet sich in der professionellen Gemeinde «FOMO» aus. Dieser Begriff ist die Abkürzung von «Fear of missing out», auf deutsch: «Angst, etwas zu verpassen».
In der «Financial Times» beschreibt Ben David vom Fonds Spice, wie sich FOMO derzeit in der Szene äussert:
Die Vermögensverwalter sind in der Zwickmühle. Einerseits werden ihre Kunden gierig, andererseits warnen Alphatiere wie der CEO von JPMorgan, Jamie Dimon, eindringlich vor den Kryptowährungen und prophezeien deren baldigen Untergang.
Zynismus kann in dieser Situation hilfreich sein. Der Hedge-Fund-Manager Mike Novogratz beispielsweise liess kürzlich durchblicken, dass er rund 250 Millionen Dollar mit Bitcoin und Ether erzielt hätte. Er verheimlicht dabei nicht, dass er glaubt, dass die Bewertung nicht mehr realistisch ist. In einem TV-Interview erklärte er offen: «Das wird die grösste Blase unseres Lebens werden – und ich habe im Sinn, dabei sehr viel Geld zu verdienen.»
Dieser Zynismus mag ein paar wenigen immense Gewinne verschaffen, für das Finanzsystem könnte er sich als tödliche Gefahr erweisen. So erklärte der Bankier Konrad Hummler jüngst in einem Interview mit watson: «Derzeit gibt es keine Schuldenberge, wie das etwa bei der Immobilienkrise der Fall war. Wenn die Verschuldungsfrage auch bei den Kryptowährungen akut wird, dann muss der Regulator eingreifen.»
Das war beim Dotcom-Boom der Fall und bei der Subprimekrise, die 2008 beinahe das internationale Finanzsystem zu Fall gebracht hat. Auch damals wurde mit hochkomplexen Finanzinstrumenten – beispielsweise synthetischen CDOs – Milliarden umgesetzt, die sich dann über Nacht in Luft auflösten. Eine weitere Kursexplosion bei den Kryptowährungen und eine Prise FOMO könnten für eine Wiederholung dieses Spektakels sorgen.
Die Schweiz könnte dabei empfindlich getroffen werden. Es gibt nämlich die immer lauter werdende Forderung, den hiesigen Finanzplatz in ein globales Krypto-Valley zu verwandeln. Deshalb solle man doch bitte Bitcoin & Co. mit Samthandschuhen anfassen und ja keine voreiligen Regulierungen vornehmen.
Wie das Beispiel von Modum zeigt, könnte sich das rächen. Das Zürcher Startup-Unternehmen will mit der Blockchain-Technik die Supply Chain von Pharmafirmen optimieren. Mit einem ICO (oder ITO) hat es kürzlich 16 Millionen Dollar aufgetrieben.
Ein ICO ist eine Art «Börsengang light», die Tokens haben Aktien-ähnlichen Charakter. Doch Modum hat nicht einmal einen Prospekt aufgelegt. Schlimmer noch: Aus den Unterlagen geht nicht hervor, was für eine Rechtsform das Unternehmen hat.
Für den nichtsahnenden Token-Käufer könnte dies üble Folgen haben, wie Werner Vontobel auf der Onlineplattform «Cash» aufzeigt:
Mit anderen Worten: Wer ein Modum-Token kauft, muss damit rechen, dass er zur Kasse gebeten wird, wenn die Firma pleite geht.
Vielleicht sollte sich die Finanzaufsicht Finma mit den Tokens und den ICOs befassen, bevor es zu spät ist. Denn es gibt durchaus Gründe für ein kommendes Finanz-Desaster. Das könnte dann wie folgt aussehen: Im derzeitigen Niedrigzinsumfeld lässt sich mit Obligationen kein Geld verdienen, die Aktien sind weltweit auf Rekordstand. Gleichzeitig wird die Gier der Anleger durch die phantastischen Renditen bei den Kryptowährungen angeheizt. FOMO und Zynismus machen sich bei den Profis breit. Für ICOs und Kryptowährungsbörsen existieren bisher kaum vernünftige Regelungen. Das sind ideale Voraussetzungen für eine Finanzblase, die in Ansätzen bereits zu beobachten ist.
Nachbemerkung: Auch Journalisten werden gelegentlich zynisch. Deshalb schreibe ich diesen Artikel im Wissen, dass er niemanden davon abhaltet, Kryptowährungen zu kaufen oder in Token zu investieren. Im Gegenteil: Auf Reddit, der Social-News-Aggregator-Seite, machen die Hardcore-Fans Sprüche wie: «Jedes Mal, wenn ein traditioneller Banker vor einer Krypto-Blase warnt, fühle ich mich bestätigt und kaufe hinzu.»
Krypto-Nerds sind wie Trump-Fans. Sie lassen sich durch nichts abschrecken, schon gar von Fakten.