«Die USA wollen ihre Wirtschaft von China abkoppeln», sagt Experte Niels Graham vom amerikanischen Thinktank «Atlantic Council». Die Europäische Union hinke den USA zwar ein paar Schritte hinterher und verfolge die Loslösung nicht mit dem gleichen Eifer. «Aber sie beginnt, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.» Der Westen will sich also frei machen von einem China, das ihm unter Präsident Xi Jinping zunehmend feindlich gesinnt ist – aber kann dies überhaupt gelingen?
Russland konnte von einem US-Senator noch verspottet werden, als blosser Lieferant von Rohstoffen, als «Tankstelle mit Atombomben». China hingegen hat die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt – wer will da im Westen noch spotten?Zumal auch die Abkoppelung von Russland eine Energiekrise ausgelöst und die Inflation in Rekordhöhe hat schiessen lassen. In Deutschland lagen die Preise zuletzt um 10 Prozent höher als im Vorjahr. Dergleichen hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nie gegeben.
In Europa glauben sie dennoch, nicht anders zu können, als sich aus der Abhängigkeit zu befreien. Das zeigen zwei wichtige Reden von Spitzenvertretern der Europäischen Union. Und die USA sind unter Präsident Joe Biden längst in eine neue Ära des Welthandels eingestiegen. Wenige Tage bevor sich Xi in China eine dritte Amtszeit sichert, hat US-Präsident Joe Biden einen beispiellosen Schlag geführt gegen Chinas Chipindustrie. Experten sehen darin ein Signal dafür, dass der Handel und gegenseitige Abhängigkeiten vermehrt als Waffen genutzt werden. Auf Englisch wird von «Weaponization of Trade» gesprochen.
Es sei die derzeit grösste geopolitische Story: das harte Vorgehen von Biden gegen die chinesische Halbleiterindustrie. So die Einschätzung des Ökonomie-Nobelpreisträgers Paul Krugman. Mit drastischen Worten wird dieses Vorgehen beschrieben vom amerikanischen «Center for Strategic and International Studies». Biden bezwecke eine «Strangulierung» grosser Teile der chinesischen Technologieindustrie – «eine Strangulierung mit der Absicht zu töten».
Was da abgetötet werden soll, das findet sich in den chinesischen Industrien für künstliche Intelligenz und Halbleitertechnologie. Hier wird der Export von US-Technologie nun strikt kontrolliert, also vor allem von Spitzenchips für künstliche Intelligenz und für Supercomputer. Biden will nicht länger zuschauen, wie US-Technologie genutzt wird in allen möglichen Arten von Militärausrüstungen oder zum Beispiel für Überwachungs-Megaprojekte.
Es ist eine spektakuläre Wende. Zuvor hielten sich die USA jahrzehntelang weitgehend aus der Halbleiterindustrie heraus. Sie liessen alles laufen, sofern auf chinesischer Seite private Firmen standen – nur militärische Käufer belieferte man nicht. Doch diese Trennung wurde von Chinas Militär mit Leichtigkeit umgangen. Nun folgt die Wende zu, wie das Center schreibt, «einem staatlichen Eingriff von noch nie dagewesenem Ausmass». Jahrzehntelang seien die USA provoziert worden von China, jetzt habe Biden gesagt: «Genug ist genug».
«China und Russland bildeten die Grundlage für unseren Wohlstand. Das ist eine Welt, die es heute nicht mehr gibt», sagte diese Woche der Chefdiplomat der EU, Josep Borrell, in einer Rede. Die Welt, die gerade entstehe, werde geprägt durch die strategische Rivalität zwischen den USA und China, sagte Borrell weiter. «Alles wird um diese Rivalität herum strukturiert, ob es uns passt oder nicht.» Den freien Handel von einst, wo allein der Preis über alles entscheidet – es gibt ihn nicht mehr. Borrell sagt:
Solche und ähnliche Aussagen sind aus Europa immer wieder zu hören. Es ist die Erkenntnis, sich wirtschaftlich abhängig gemacht zu haben von Autokraten, die dem Westen feindlich gegenüberstehen – und dass man nun die Rechnung präsentiert erhält. Borrell sagte in seiner Rede so: Europa habe zuvor die Quellen seines Wohlstands von den Quellen seiner Sicherheit abgetrennt. «Ich denke, wir Europäer stehen vor einer Situation, in der wir unter den Folgen dieser Abtrennung leiden.»
China könnte eine bestimmte Waffe nutzen: seine beherrschende Position bei den Erneuerbaren Energien. So sieht das Ursula von der Leyen, und die Präsidentin der Europäischen Kommission will sich dagegen wappnen. In einer Rede von Mitte September sagte sie: «Wir müssen vermeiden, in die gleiche Abhängigkeit zu geraten wie bei Öl und Gas.» Ob es nun um Computerchips geht oder um Zellen für Solarpaneele, immerzu seien bestimmte Rohstoffe entscheidend, wie Lithium oder Seltene Erden. China sei in deren Abbau und Verarbeitung dominant: Es verarbeitet fast 90 Prozent der Seltenen Erden und 60 Prozent des Lithiums.
Dagegen will von der Leyen nun Gegengewichte aufbauen. Es soll Abkommen geben mit «gleichgesinnten» Ländern wie Mexiko oder Neuseeland, Australien oder Indien. Es soll «strategische Projekte» entlang der gesamten Lieferkette geben, worunter in irgendeiner Form wohl immer staatliche Eingriffe zu verstehen sind. Und es sollen strategische Reserven aufgebaut werden, wo die Versorgung gefährdet ist. Die Initiative wird von Experten als weiteres Signal dafür gewertet, dass Europa nicht länger blind auf einen freien Welthandel vertrauen will.
Dass die Entkoppelung von China teuer wird – das zeigt sich an wenigen Kennzahlen: 2021 importierte die EU aus keinem anderen Land als China mehr Waren. Für die Schweiz ist China der drittwichtigste Handelspartner, nach den USA und der EU. Experte Graham vom Atlantic Council sagt: «Eine wirtschaftliche Entkopplung wäre für die Konsumenten insgesamt nachteilig.» Zuvor hätten sie durch den Import günstiger Waren «made in China» sparen und für anderes ausgeben können. Bei einer Entkoppelung wird vieles teurer.
Die wichtigsten Waren, die die Schweiz letztes Jahr aus China importierte, waren Computer und Mobiltelefone, wie eine «Länderfiche» des Bundes zeigt. EU-Spitzendiplomat Borrell sagte: Die chinesischen Arbeitnehmenden mit ihren tiefen Löhnen seien entscheidend dafür gewesen, dass die Inflation lange Zeit derart tief war. Doch eine Rückkehr zur alten Welt des freien Handels wird es nicht geben, zumindest nicht mit den aktuellen Präsidenten in Russland und in China.