Dass Revolutionen ihre eigenen Kinder auffressen, ist mehr als ein geflügeltes Wort. Die Idealisten der Französischen Revolution endeten unter der Guillotine, diejenigen der UdSSR in der Hölle von Stalin. Auch libertäre Revolutionäre haben in der Regel kein Glück. Fragt die britische Premierministerin Liz Truss und ihren glücklosen Sidekick Kwasi Kwarteng. Die beiden haben in den letzten Wochen nach allen Regeln der Kunst «Kwamikaze» begangen, wie Spötter sagen. Aber der Reihe nach:
Am 22. September hat der frisch installierte Finanzminister Kwarteng sein «Mini-Budget» vorgestellt. Diesmal ist Nomen nicht gleich Omen. Hinter dem harmlosen Begriff «Mini-Budget» verbirgt sich ein Programm für eine libertäre Revolution, die der Finanzminister zusammen mit seiner Premierministerin vom Zaun brechen wollte.
Kwarteng ist mehr als ein Finanzfachmann. Er ist ein in der Wolle gefärbter Libertärer und Co-Autor einer 2012 erschienen Kampfschrift mit dem Titel «Britannia Unchained». Zudem hat der ehemalige Hedgefonds-Manager Verbindungen in die einschlägigen liberalen Denkfabriken, die auch in London ihr Unwesen treiben.
In «Britannia Unchained» geht es darum, dass sich die Briten endlich an Asien, insbesondere an Singapur, orientieren sollten. Der durchschnittliche Arbeitnehmer des Stadtstaates arbeite zwei Stunden und 20 Minuten mehr als der durchschnittliche Brite, ist darin zu erfahren. Selbstverständlich dürfen auch die üblichen Tiraden gegen einen auswuchernden Sozialstaat, gegen zu hohe Steuern und gegen zu viele Regulierungen nicht fehlen.
Singapur ist seit Jahren auch das Vorbild der Brexit-Befürworter. Man wolle aus London ein «Singapur an der Themse» machen, lautete etwa eines ihrer Versprechen. Befreit von den Fesseln der EU werde das Vereinigte Königreich zu alter Grösse finden, stellten sie einst vollmundig in Aussicht. Dass diese Versprechen von allen ernsthaften Ökonomen bezweifelt wurden und dass sie zudem jenseits der politischen Realität waren, wurde dabei ausgeblendet. Die Briten begaben sich mit dem Brexit auf einen Marsch ins Kuckucksland. Oder wie es Jonathan Freedland im «Guardian» ausdrückt:
Mit dem Slogan «Get Brexit Done» erzielte Boris Johnson Ende 2019 einen Erdrutsch-Sieg – und führte die Briten weiter auf den Weg ins Kuckucksland. Der Möchtegern-Churchill schreckte auch davor nicht zurück, bereits ausgehandelte Verträge mit der EU wieder infrage zu stellen. Den ausgepowerten Arbeitern im Norden versprach er derweil grosszügige Sozialprogramme und wirtschaftlichen Aufschwung, dem um die Umwelt bangenden Mittelstand im Süden eine britische Version eines Green New Deals.
All dies sollte sich bald als Luftschloss herausstellen. Anstatt als «Singapur an der Themse» zu neuem Glanz aufzusteigen, verlor der Finanzplatz London an Einfluss. Aus den in Aussicht gestellten Freihandelsabkommen, insbesondere einem mit den USA, wurde nichts. Stattdessen setzte sich die ökonomische Realität durch. Das britische Bruttoinlandsprodukt begann zu schrumpfen, die Investitionen blieben aus.
Wie einst in den Siebzigerjahren ist das Vereinigte Königreich heute wieder der «arme Mann von Europa», mit einer Arbeiterklasse, die nicht weiss, wie sie im kommenden Winter ihre Wohnungen heizen soll, und einem Mittelstand, der nicht weiss, wie er seine Hypothekarzinsen bezahlen kann.
Auftritt der Möchtegern-Thatcher Liz Truss. Nachdem Johnson in ein Fettnäpfchen zu viel getreten war und zurücktreten musste, wollte sie sich im Stile von Ronald Reagan – dem Seelenverwandten von Margaret Thatcher – inszenieren und das Vereinigte Königreich mit Gewalt auf einen Wachstumspfad zwingen.
Nun waren die Briten endgültig im Kuckucksland angekommen. Wirtschaftlich war das «Mini-Budget» von Kwarteng abenteuerlich. Es sah Steuererleichterungen für Reiche und Unternehmen und – wegen der explodierenden Gaspreise – Subventionen für alle vor. Beides war nicht gegenfinanziert, will heissen: sollte auf Pump geschehen, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die Inflation ausser Kontrolle zu geraten droht.
Dabei hat Truss zwei Details übersehen, ein ökonomisches und ein politisches. Zum ökonomischen: Reagan konnte seinerzeit ein solches Programm durchziehen, weil die USA eine Supermacht und der Dollar die globale Leitwährung ist. Im Fall von Grossbritannien ist beides Wunschdenken.
Anders als etwa Christoph Blocher bei uns hat Truss es auch unterlassen, ihre libertäre Wirtschaftspolitik populistisch einzubetten. Dabei hat sie übersehen, dass die Libertären eine winzige Minderheit darstellen. Paul Krugman bezeichnet sie in der «New York Times» spöttisch als «weisse Männer, die eine Fliege tragen».
Ohne politische Basis hatte Truss keine Chance. Der Slogan «Take Back Control» der Brexiter ist definitiv zur hohlen Phrase verkommen, denn nun haben effektiv die Märkte die Kontrolle übernommen. Als Reaktion auf das «Mini-Budget» ist das britische Pfund in den Keller gerasselt und die Zinsen für Staatsanleihen sind in die Höhe geschnellt. Um eine Katastrophe zu verhindern, musste die Bank of England eingreifen.
Innert Wochen ist Liz Truss deshalb zu einer wandelnden politischen Leiche geworden. Sie musste ihren Finanzminister und Vordenker Kwarteng feuern und ihn durch den gemässigten Jeremy Hunt ersetzen. Dieser hat umgehend das «Mini-Budget» seines Vorgängers bis auf ein paar Details widerrufen und ist heute de facto der starke Mann.
Liz Truss darf wohl nur noch so lange im Amt bleiben, bis die Konservativen sich auf einen Realersatz geeinigt haben. So lange wird sie die Zielscheibe von beissendem Spott bleiben. Ja, sie könnte einem fast leidtun. Aber nur fast. Sie hat es mehr als verdient.
Das Vereinigte Königreich hingegen steht vor schweren Zeiten. «In sechs kurzen Wochen hat Grossbritannien die politischen Zustände und die Verschuldung von Italien erreicht», klagt Camilla Cavendish in der «Financial Times». «Aber leider ohne den dazugehörigen Sonnenschein.»
Dieser rechte Libertarismus ist der feuchte Traum aller HSG-Absolventen, SVP-Oberen, der ganzen FDP und teilen der Mitte.