Blocher hat mit seiner peinlichen Rentenrückforderung nicht nur seine Würde verloren, er hat damit de facto auch eingestanden, dass er politisch am Ende ist. Der Siegeszug der Kombination von Neoliberalismus und Nationalismus, wie Blocher sie der SVP eingeimpft hat, ist vorbei. Dem Doyen aus Herrliberg bleibt nur noch kindisches Trötzeln.
Das Coronavirus hat die SVP-Krise nicht verursacht, aber es wirft ein grelles Licht auf die von Blocher propagierte Erfolgsformel. Doch zunächst eine kurze Rückblende:
Die ersten 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg standen – zumindest im Westen – ganz im Zeichen des Sozialstaates. Als Dank für die grossen Opfer im Krieg wurden grosse Zugeständnisse an die Arbeiter gemacht: Die Gewerkschaften waren so stark und die Sozialleistungen so gross wie nie zuvor.
Nicht nur sozial, auch wirtschaftlich machte das alles Sinn. Die neue Kaufkraft war der Motor der entstehenden Konsumgesellschaft. Autos, TV-Geräte, Kühlschränke und Ferien am Mittelmeer wurden erschwinglich und selbstverständlich. Es herrschte die Periode der «goldenen dreissig Jahre».
In den Siebzigerjahren geriet dieses Modell in die Krise. Die USA sorgten mit der Aufhebung des Goldstandards für ein Währungs-Chaos. Die Golfstaaten verzehnfachten schlagartig den Ölpreis und würgten damit die Konjunktur ab. Der Verteilkampf wurde härter, Streiks waren an der Tagesordnung.
Vor allem in den angelsächsischen Ländern verluderte das Modell des Sozialstaates. Das Vereinigte Königreich taumelte von einer Streikwelle zur nächsten und verlotterte buchstäblich. In den USA versanken die Städte in einer bisher nicht gekannten Welle von Gewalt.
Aus den angelsächsischen Ländern erfolgte folgerichtig denn auch die Gegenreaktion: der Neoliberalismus. Basierend auf den Theorien von Friedrich Hayek und Milton Friedman machten sich Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den Achtzigerjahren daran, die Gesellschaft umzukrempeln.
Der Staat, bisher Feindbild der Linken, wurde zum Buhmann der Rechten. Reagans Spruch: «Der gefährlichste Satz der Welt lautet: ‹Ich bin von der Regierung und will dir helfen›», wurde zum Bonmot des Jahrzehnts.
Zunächst galt es, die Macht der Gewerkschaften zurückzubinden. Dann wurde dem Staat eine Fitnesskur verabreicht, will heissen: Gesetze, welche den Markt behinderten, wurden gelockert oder abgeschafft. Das betraf vor allem den Arbeitsmarkt. Das Resultat waren sinkende Löhne und boomende Finanzmärkte.
Genauso wie der Sozialstaat erlebt der Neoliberalismus seit Beginn des 21. Jahrhunderts einen Niedergang. Höhepunkt bildete die Finanzkrise im Jahr 2008/09. Obwohl diese Krise durch ein beispiellos unverantwortliches Handeln von Bankern ausgelöst worden war, waren es ausgerechnet die Banken, die mit Staatsmilliarden gerettet wurden.
Das war das Signal für eine Populismus-Welle, die wiederum in den angelsächsischen Ländern besonders ausgeprägt war. In den USA schwemmte sie Donald Trump ins Weisse Haus. Das Vereinigte Königreich zerfleischte sich derweil im Brexit, bevor es sich Boris Johnson an den Hals warf.
Wiederum in den angelsächsischen Ländern zeigen sich die Schäden des Neoliberalismus besonders ausgeprägt: Der Mittelstand verarmt, die Monopolisierung der Wirtschaft schreitet unaufhaltsam voran, die Ungleichheit erreicht absurde Ausmasse.
Es ist daher kein Wunder, dass das derzeit am meisten zitierte Buch den Titel trägt: «Death and Despair and the Future of Capitalism» (Tod und Verzweiflung und die Zukunft des Kapitalismus). Darin schildern die beiden mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Ökonomen Anne Case und Angus Deaton, wie der amerikanische Mittelstand an Alkohol, Drogen und sich häufenden Selbstmorden zugrunde geht.
Das Coronavirus hat, wie erwähnt, diese Entwicklung nicht verursacht. Es macht jedoch für jedermann sichtbar, wie hilflos der Neoliberalismus den aktuellen Problemen gegenübersteht. So schreiben Michael T. Osterholm und Mark Olshaker in der jüngsten Ausgabe von «Foreign Affairs»:
Osterholm ist Professor an der University of Minnesota und ein führender Virologe, Olshaker Wissenschaftsjournalist.
Ebenfalls in «Foreign Affairs» macht der renommierte Politologe Francis Fukuyama auf das politische Scheitern des Neoliberalismus aufmerksam. Reagans einstiger Spott über den Staat ist zu einem schlechten Witz verkommen. «Niemand kann heute mehr plausibel machen, der Privatsektor oder Wohltätigkeit könnten während einer nationalen Krise einen kompetenten Staat ersetzen», hält Fukuyama fest.
Das Versagen von Nationalismus und Neoliberalismus in Zeiten der Coronakrise ist wiederum gerade in den angelsächsischen Ländern offensichtlich. Höchstens Brasilien und Russland haben diese Krise schlechter gemanagt als die beiden. Donald Trump spricht deshalb ganz einfach nicht mehr darüber.
Um von seinem Versagen abzulenken, setzt der US-Präsident immer offener auf die Karte Rassismus. So hat er den amerikanischen Nationalfeiertag dazu missbraucht, den Kulturkrieg gegen Schwarze und Latinos anzuheizen. Zum offenen Faschismus fehlt da nicht mehr viel.
Dies könnte indirekt auch einen Einfluss auf die Märkte haben, da könnten sich doch einige sinnvolle Regulierungen anbahnen, wenn denn die Mehrheit dies angehen will.
England hat diese Entwicklung schon lange hinter sich. Folge: Patienten werden z.B. unnötig sediert, um Personalkosten zu sparen. Das freut nur die Aktionäre. Für alle andern ist eine solche Entwicklung ziemlich ungesund.
Bsp. aus dem Kt. LU:
https://www.luzernerzeitung.ch/amp/schweiz/umwandlung-umstrittener-trend-zur-spital-ag-ld.83500