Hat die Schweizerische Nationalbank ihr Problem nun mit ihrer Geldpolitik gelöst? Wird jetzt die Wirtschaft – so wie sie es verlangen – nicht mehr wachsen?
Irmi Seidl: Ich denke, es war nie die Absicht der Nationalbank, die Wirtschaft anzukurbeln, sicherlich aber zu stützen. Zweifellos wird die Aufhebung des Mindestwechselkurses Dellen im Wirtschaftswachstum hinterlassen.
Als Wachstumskritikerin müssten Sie mehr als happy darüber sein.
Die Geldpolitik ist nur ein Instrument der Wirtschaftspolitik. Andere sind wichtiger, beispielsweise Standortförderung und die Steuer- und Arbeitsmarktpolitik.
Warum ist Wachstum ihr Feind?
Ich bin nicht gegen Wachstum, ich bin gegen eine forcierte Wachstumspolitik. Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck. Es belastet die Umwelt und forciertes Wachstum bringt Wirtschaftskrisen: Blasen, starke Konjunkturschwankungen und einen massiven Anstieg von privaten und öffentlichen Schulden.
Diese Diskussion der Wachstumskritik hat man bereits Ende der 70er Jahre geführt. Damals kam man zum Schluss, dass es Wachstum braucht, um den Wohlstand der entwickelten Länder zu erhalten. Was hat sich in der Zwischenzeit geändert?
Wir sind an einem Punkt, an dem die negativen Folgen des Wachstums spürbar überwiegen. Der Wohlstand stagniert, die Umweltprobleme nehmen enorm zu. Menschen werden resistent gegen Antibiotika, Schwermetall verseucht die Böden. Kurz: Wir ignorieren die Auswirkungen unseres Handelns und verbrauchen zu viel.
Wie wollen Sie die Sozialversicherungen ohne Wachstum finanzieren?
Das ist sicher ein zentrales Problem. Unsere Altersvorsorge ist abhängig davon, dass immer mehr Geld in den Kapitalmarkt gepumpt wird. Langsam ändert sich das. Die AHV wird bereits zu einem Viertel aus anderen Quellen gespiesen, aus der Spielbankenabgabe und der Mehrwertsteuer.
Das reicht bei weitem nicht.
Um unsere Altersvorsorge zu sichern, werden wir nicht daran vorbeikommen, in anderen Bereichen Geld abzuschöpfen. Das könnten eine erhöhte Bundes-Kapitalsteuer, eine Erbschaftssteuer oder Umweltabgaben sein. Gleichzeitig müssen wir uns auch fragen, wie man die oft längere Erwerbsfähigkeit der Menschen nutzen, wie man die Kapazitäten und Fähigkeiten der Menschen über 65 besser integrieren kann. Schliesslich müssen wir nach Lösungen suchen, wie man die Kosten für Alterspflege- und Gesundheit senken kann. Denn wir können in der Zukunft nicht damit rechnen, dass die Kapitalmärkte 4,5 Prozent Rendite abwerfen.
Wir müssen also unser Leben umkrempeln, zumindest ein bisschen.
Ja, die Reduktion des Wachstums wird die Lebensgestaltung verändern. Wir werden uns vermehrt mit unbezahlten Leistungen in die Gemeinschaft einbringen. Wir werden den Austausch zwischen den Generationen stärken und neue Strukturen im Gesundheits- und Pflegewesen entwickeln.
Auf was müssen wir fortan verzichten?
Wir werden sicherlich nicht mehr im selben Masse mobil sein. Das betrifft vor allem den Flug- und Privatverkehr. Die Ressourcen dafür werden fehlen, die Preise werden steigen.
Weniger fliegen, weniger Autofahren, Umsteigen aufs Velo – Sie kennen sicher das böse Wort des Ökofaschismus ...
Wir haben liberale Verfassungen, ich habe deshalb keine Angst, dass die Gesellschaft in einen Ökofaschismus abdriften würde. Wir führen seit dreissig oder vierzig Jahren Umweltdiskussionen, in der Politik ist aber bislang kaum etwas davon hängengeblieben. Und da wird wohl auch in den nächsten dreissig Jahren nichts hängen bleiben, oder zumindest nur ein Teil davon. Zudem wird die Umweltdebatte auch stark von liberalen Kräften getragen, die keine faschistischen oder diktatorischen Tendenzen unterstützen.
Die alleinige Aufforderung zu einem gesünderen und umweltbewussteren Leben allein reicht aber nicht. Braucht es da nicht gewisse Zwangsmassnahmen?
Wer hätte jemals gedacht, dass die Tabakindustrie so zurechtgestutzt wird? Wenn die Probleme zu gross werden, dann entsteht ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür.
Der Leidensdruck muss also hoch genug sein. Ist er das jetzt?
Die Menschen merken allmählich, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Sie beginnen, sich grundsätzliche Fragen zu stellen: Was essen wir? Wie viel Fläche und Ressourcen verbrauchen wir? Neue soziale Bewegungen entstehen: Der Veganismus, die Sharing Economy und die urbane Subsistenz, beispielsweise das so genannte Urban Farming.
Sind Sie selbst Veganerin?
Seit einem Jahr bin ich Teilzeitveganerin und seit vielen Jahren Vegetarierin.
Ist das nicht bloss ein kurzlebiger Hype?
Nein. Die Menschen merken, dass sie sich neu organisieren müssen. Sie bauen regionale Netzwerke auf, erlernen neue Fähigkeiten, um auf die globalen Probleme, denen sie ausgesetzt sind, reagieren zu können.
Aber dabei handelt es sich doch viel eher um einzelne Idealisten. Ist ein solches Konzept überhaupt mehrheitsfähig?
Neues tröpfelt immer nur langsam in die Gesellschaft rein. Vor dreissig Jahren hätte man von irgendwelchen weltfremden Anthroposophen und ihren Ökofeldern gesprochen. Heute konsumieren an die zehn Prozent Bioprodukte. Dasselbe gilt für die regionalen Nahrungsmittel. Auch die Sharing Economy bringt grosse ökonomische Umwälzungen. Autoproduzenten stellen ihre Businessmodelle auf Car- und Velo-Sharing um, und die Hotellerie muss sich der Herausforderung der Airbnb-Community stellen.
Diese Entwicklungen sind sehr unumstritten, gerade Uber und Airbnb.
Absolut. Sie sind aus ökologischen und sozialen Überlegungen interessant, weil es sich um Tausch-Konzepte handelt. Diese werden aber dann von irgendwelchen kapitalistischen, profitmaximierenden Systemen übernommen. Wir werden immer beide Dimensionen haben: Jede Innovation kann positive oder negative Konsequenzen haben.
Wir klagen auf hohem Niveau. Die Mehrheit der Menschen lebt noch immer von sehr wenig. Wenn die Weltwirtschaft dieses Jahr um 3,5 Prozent wächst, sollte sich in zwanzig Jahren nochmal alles verdoppeln. Ist das überhaupt möglich?
Nein, das ist nicht möglich, wenn wir unsere Lebensgrundlagen nicht gänzlich zerstören wollen.
Also müssen wir einen Teil unseres Wohlstandes opfern?
Sicher geht es darum, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen. In der Schweiz steht uns ein Fussabdruck von 1,2 globalen Hektaren zur Verfügung, tatsächlich brauchen wir fünf. Es geht auch darum, dass Schwellen- und Entwicklungsländer nicht unsere Entwicklungsfehler wiederholen.
Wie zum Beispiel?
Wenn Sie sich die chinesischen Geisterstädte anschauen: Die stehen irgendwo in der Wüste und eigentlich hätten darin Millionen von Menschen Platz, aber niemand wohnt drin. Und nun will China als Wachstumsprogramm bis 2025 vierhundert Millionen Menschen vom Land in neu zu erbauende Städte holen. Oder Indien: Der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen stellt fest, dass In Indien Wachstum ohne Entwicklung stattgefunden habe. Eine Elite und die mittlere Oberschicht sind reich geworden, aber die Hälfte der Bevölkerung bleibt mausearm. Und solange in Amerika und Europa nur nach Wachstum gestrebt wird, werden natürlich auch in diesen Ländern keine Reflexionen bezüglich alternativer Entwicklungsmodelle angestellt.
Können wir China oder Indien vorschreiben, wie sie sich zu entwickeln haben?
Nein, das können wir absolut nicht. Aber wir können Diskussionen lancieren. Und wir können unsere Erfahrung weitergeben. Unser Problem ist, dass wir jahrzehntelang Wachstum gehabt haben und es jetzt nicht schaffen, uns auf Nicht-Wachstum einzustellen. Wir sind nicht in der Lage zu sagen, jetzt haben wir weitgehend genug. Und andere Schwellenländer laufen in die gleiche Situation hinein. Da müsste ein Diskurs stattfinden: Wie gestalten wir nach zwanzig, dreissig Jahren Aufbau unsere Gesellschaft, so dass wir ohne ständiges Wachstum klar kommen? Es geht mir nicht um ein Wachstumsverbot. Wir müssen das Wachstumsgebot überwinden.
Was für Entwicklungsmodelle schlagen Sie vor?
Für Unternehmen gäbe es die Möglichkeit, die Arbeitszeit für ihre Mitarbeiter zu reduzieren. Sie können sich darauf zu konzentrieren, ihre Qualität zu verbessern und Kunden zu binden, anstatt immer nur neue Märkte zu erobern.
Sie sind eine grosse Gegnerin von Schulden. Leider basiert unsere Wirtschaft auf Kredit.
Die Geschichte zeigt, dass es immer wieder zu Bankrotten kommt, wenn sich der Staat zu stark verschuldet. Auf unserem heutigen Niveau bedeutet das immer auch einen zu grossen Ressourcenverbrauch. Die Staaten müssen sich mit der öffentlichen Verschuldung begrenzen, denn es darf nicht sein, dass über Jahrzehnte Wachstum mit öffentlicher und privater Verschuldung angeschoben wird.
Angenommen, diese Regelung würde eingeführt: Der Staat dürfte sich tatsächlich nicht mehr verschulden. Daraus ergäben sich Rezensionen und Arbeitslosigkeit. Wie würden Sie das den Menschen erklären?
Natürlich sollte das nicht von heute auf morgen geschehen. Griechenland zeigt, was passiert, wenn die Staatsausgaben plötzlich massiv beschnitten werden. Aber mittelfristig dürfen sich Länder nicht mehr über ihre Möglichkeiten verschulden. Das führt einfach zu enormen Ungleichgewichten. Deutschland beispielsweise profitiert jetzt vom niedrigen Euro, Italien und Griechenland hingegen können sich nicht anpassen.
Also sollte man sich wieder mehr auf die Regionen konzentrieren. Heisst das auch, dass die EU eine Fehlkonstruktion ist?
Der Euro verursacht definitiv Probleme, die beteiligten Ökonomien sind zu heterogen. Aber da der Austritt einzelner Mitglieder nicht vorgesehen ist, gibt es Überlegungen, neben dem Euro nationale oder regionale Euros bzw. Währungen einzuführen.
Also eine Art Parallelwährung?
Genau. Wir brauchen neben dem Euro Parallelwährungen, die die Wirtschaft der Regionen stärken.
Aber die würden ebenfalls das Wachstum ankurbeln.
Ja, es geht um die Stabilisierung und Entwicklung einzelner Regionen und Länder. In Griechenland würde das beispielsweise zu einer geringeren Auslandsabhängigkeit führen. Wenn wir weniger Wachstum haben, heisst das nicht unbedingt, dass die Umwelt weniger belastet wird. Es geht um einen ökologischen Umbau; um einen geringeren Energie- und Ressourcenverbrauch. Und wenn die griechische, italienische oder spanische Wirtschaft einmal gestärkt sind, kann man sie vielleicht in eine ökologische Richtung bringen.
Ihre Kritiker würden sagen: So eine Diskussion kann man sich eigentlich nur leisten, wenn man vom Wohlstand verwöhnt ist. Können nur reiche Länder über ein Wachstums-Stopp diskutieren?
Die Frage ist vielmehr, wer diese Diskussion in den einzelnen Ländern führt. In Brasilien sind es nicht die wohlstandsgesättigten Menschen, sondern diejenigen, die darunter leiden, dass der Amazonas abgeholzt oder dass überall Soja angebaut wird. Sie fragen sich: Ist es zweckmässig, unsere Wirtschaft mit einer absoluten Zerstörung der ökologischen Ressourcen anzukurbeln? In Indien verdient rund die Hälfte der Bevölkerung weniger als zwei Dollar pro Tag. Diese Menschen fragen sich: Wohin geht unser Wachstum? Die breite Bevölkerung profitiert in keinster Art und Weise davon. Die Wachstumsskepsis wird von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen geäussert und der Diskurs findet in ganz verschiedenen Ländern auf verschiedenen Entwicklungsniveaus statt.