Die Digitalisierung greift auf den Immobilienmarkt über. Eine lange Reihe neuer Technologien erreicht diesen Megamarkt, an dem in der Schweiz über 1000 Milliarden Franken an Hypotheken ausstehen. Maschinelles Lernen wird angewandt, Big Data, die neue Generation von Mobilfunknetzen 5G, erweiterte Realität, virtuelle Realität, 3D-Druck, das Internet der Dinge oder Satelliten zur Verortung von Maschinen auf der Baustelle. Damit verändert sich, wie Wohnungen oder Büros oder der Shop um die Ecke künftig geplant, erstellt, beworben und verkauft werden. Diese technologischen Revolutionen gelangen bis zum Mieter und zum Büroarbeiter. Bislang glichen sie unbekannten Wesen.
Dabei wäre gesichertes Wissen dazu entscheidend: der moderne Mensch verbringt seine Lebenszeit mehrheitlich in gebauten Räumen. «Die Konsumgüterindustrie hat im Vergleich dazu ein viel klareres Bild vom Kunden: welche Uhren er will, welche Handtaschen oder Süssgetränke», sagt Christian Kraft, Immobilienspezialist an der Hochschule Luzern.
Dieses Missverhältnis will eine neue Generation von Forschern beheben. Der Mieter wird durchleuchtet, auch als Stadtbewohner. Beispielsweise wollen Forscher an der ETH Zürich via Big Data und Datenanalyse neue Erkenntnisse ableiten, mit deren Hilfe «lebenswertere Städte» entstehen sollen. Ein anderes Forscher-Team hat nachgewiesen: Menschen reagieren ganz ähnlich auf virtuelle wie auf reale Gebäude. Somit kann in virtuellen Welten bis ins kleinste Detail gemessen werden, wie Menschen auf architektonische Veränderungen reagieren.
Andere Forscher wollen mit riesigen Datenmengen über Büroräume herausfinden, wie sich der Umgang der Angestellten untereinander verbessern lässt. Am Ende geht es immer darum: Wie können gebaute Räume entstehen, in denen Menschen besser leben können?
Diese Forschung hat die Universitäten und Hochschulen längst verlassen. Von Startups und Spin-offs wird sie in die Wirtschaft hineingetragen, wie etwa von Archilyse. Der Spin-off von der ETH Zürich verspricht nichts weniger als die «umfangreichste Architekturanalyse weltweit». Geschäftsführer Matthias Standfest war in Singapur am «Future Cities Laboratory» aufgefallen, dass in der Immobilienwirtschaft verfügbare Daten nicht genutzt und auf dünner Grundlage entschieden wird. In seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich wies der gebürtige Österreicher dann nach, dass sich die Qualität von Architektur mit maschinellem Lernen allgemeingültig messen und bewerten lässt.
Damit hatte Standfest die geistige Grundlage für sein Unternehmen. «Architektur ist viel einflussreicher, als viele wahrhaben wollen», sagt der Österreicher, der auch Architektur und Philosophie studiert hat. Zahlreiche Studien würden zeigen, dass sie einen positiven oder einen negativen Einfluss haben könne auf menschliches Wohlergehen. In schlechten Grundrissen könne es beispielsweise eher zu häuslicher Gewalt kommen, Menschen eher süchtig werden. In guten Grundrissen würden sich Kinder besser entwickeln können. Dieser Verantwortung müsse Architektur sich bewusst sein und sich wieder am Menschen orientieren.
Auf seinem Weg ist Standfest weit gekommen. Die Archilyse-Software lässt Wohnblöcke zuerst im digitalen Raum entstehen. Bis auf den Quadratzentimeter genau bauen Algorithmen einzelne Zimmer nach, dann Türen, Kochherde oder Duschen – bis jede Wohnung ihren Grundriss hat. Das fertige Gebäude wird in ein digitales Abbild der realen Stadt eingesetzt. Strassen werden hineinkopiert, Lärmbelastung, jeder Baum, der nächste Supermarkt oder ein Park. Zuletzt wird es Licht, die Sonnenstrahlung eingerechnet.
Mit der fertigen digitalen Welt kann der Architekt spielen. Die Archilyse-Software sagt ihm in Sekunden: Verschiebst du dieses Fenster einen Meter nach links, hat es auf jenem Quadratzentimeter in der hinteren Wohnzimmerecke bis nachmittags um vier Uhr noch Tageslicht. Oder: Stellst du das Kinderzimmer da hin, sinkt dort der Lärmpegel nachts um so und so viele Dezibel. Die Sicht auf Bäume kann angezeigt werden: in jedem Zimmer, in jeder Wohnung, auf jedem Stockwerk. Nimmt man alles zusammen, lassen Grundrisse sich anhand simpel klingender Kriterien vergleichen: Eignet sich dieser oder jener Grundriss mehr für Familien mit Kindern oder für ein Rentner-Ehepaar? In der Wirtschaft glauben anscheinend viele Akteure an das Geschäftsmodell von Standfest. Archilyse konnte gewichtige Geldgeber aus dem Schweizer Immobilienmarkt gewinnen, die Zürcher Kantonalbank etwa oder die Versicherung Swiss Life.
Erste Kunden kaufen Standfest bereits seine Software ab, darunter etwa der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein. Investoren und Kunden versprechen sich, künftig Wohnungen oder Büros genauer bewerten zu können. Das grosse Interesse kommt nicht von ungefähr. Im Schweizer Immobilienmarkt stehen Unsummen auf dem Spiel. Die ausstehenden 1000 Milliarden Franken an Hypotheken übersteigen die jährliche Wirtschaftsleistung von aktuell 670 Milliarden bei weitem. Das Wachstum der Hypotheken war rasant, in den letzten 15 Jahren verdoppelte sich das Gesamtvolumen. Die Behörden warnen daher seit Jahren vor Übertreibungen. Umso wichtiger ist es, in die richtige Wohnung oder das richtige Bürogebäude zu investieren.