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«Wie Stalin regieren und wie Abramowitsch leben»

«Ruhm dem grossen Stalin!» (1950): Gemälde von Yuri Kugach, sozialistischer Realismus.
«Ruhm dem grossen Stalin!» (1950): Gemälde von Yuri Kugach, sozialistischer Realismus.Bild: Universal Images Group Editorial
Krim-Krise

«Wie Stalin regieren und wie Abramowitsch leben»

Wladimir Putin regiert sein Land mit eiserner Hand. Weshalb er selbst die faschistische Gefahr ist, vor der er warnt, und warum die Mitglieder der neuen Elite nicht in Moskau leben wollen. Das erklärt die Russlandexpertin Chrystia Freeland.
22.03.2014, 18:1123.06.2014, 14:47
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Chrystia Freeland, 46, ist kanadische Publizistin und Politikerin. Sie hat als Moskau-Korrespondentin der «Financial Times» den Kollaps der UdSSR miterlebt. In den 1990er-Jahren hat sie zuerst den Aufstieg der ersten Oligarchengeneration erlebt, danach den Wandel von Putin vom unbekannten Geheimdienstagenten zum mächtigsten Mann Russlands. 

Chrystia Freeland beim Interview mit watson.
Chrystia Freeland beim Interview mit watson.Bild: watson

Im vergangenen Jahr hat Freeland mit dem Buch «Die Superreichen» einen internationalen Bestseller veröffentlicht. Freeland ist soeben von einer Reise durch die Ukraine zurückgekehrt. 

watson traf sie am europäischen Trendtag des Gottlieb Duttweiler Instituts in Rüschlikon. 

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Bild: Giphy

Frau Freeland, in der «Financial Times» haben Sie die Krim-Krise als Bedrohung für die Demokratie bezeichnet. Ist das nicht übertrieben?
Chrystia Freeland:
 Putins Vorgehen gefährdet die Demokratie gleich mehrfach. Er setzt sich über das Völkerrecht hinweg und international anerkannte Grenzen kümmern ihn nicht. Im Fall der Ukraine ist dies besonders stossend. Das Land hat 1994 freiwillig auf Atomwaffen verzichtet und als Gegenleistung die Garantie erhalten, dass seine nationale Souveränität nicht verletzt werde. 

«Das Referendum wurde sehr schnell durchgeführt und den Menschen wurde de facto eine Pistole an den Kopf gehalten.»
Chrystia Freeland.

Warum ist dies so gravierend?
Es besteht die Gefahr, dass nun der Atomwaffensperrvertrag unterlaufen wird. Warum sollen künftig Nationen auf Atomwaffen verzichten, wenn sie dafür bestraft werden?

Doch die Menschen auf der Krim wollen sich offensichtlich Russland anschliessen. Ist das nicht ihr demokratisches Recht?
Wissen wir das wirklich? Das Referendum wurde sehr schnell durchgeführt und den Menschen wurde de facto eine Pistole an den Kopf gehalten. Vergessen Sie nicht: Die Ukraine ist nun seit 23 Jahren ein selbstständiger Staat. In dieser Zeit hat es in Regionen der ehemaligen Sowjetunion verschiedenste Unabhängigkeitsbewegungen gegeben – denken Sie an Georgien, Abchasien oder Tschetschenien  – aber es hat keine solche Bewegung auf der Krim gegeben. 

Sergej Aksjonow.
Sergej Aksjonow.Bild: EPA

Sie bezweifeln, dass die Menschen auf der Krim sich Russland anschliessen wollen?
Ich bin nicht so sicher, ob es tatsächlich eine Massenbewegung in Richtung Russland gibt. Der neue, angeblich starke Mann auf der Krim, Regierungschef Sergej Aksjonow, hat bei den letzten Wahlen gerade Mal vier Prozent der Stimmen erhalten.

Was ist mit dem Argument, dass sich russischstämmige Menschen auf der Krim in Gefahr befinden?
Das ist wohl die absurdeste von allen absurden Behauptungen Putins. Die Ukraine ist der Ort, an dem sich die Russen am freiesten fühlen. Nirgends sonst können sie so ungehindert sagen und schreiben, was sie denken. Viele russische Journalisten haben Zuflucht in der Ukraine gesucht und gefunden. Das ist auch ein Grund, weshalb Putin so erpicht darauf ist, die Kontrolle zu behalten. 

«Was wir unter der Regierung Janukowitsch erlebt haben, war mehr als Korruption, das war eine eigentliche Plünderung.»
Chrystia Freeland.

Ging es nicht um ein Handelsabkommen mit der EU?
Sicher, aber Putin will gleichzeitig verhindern, dass in der Ukraine eine offene und freie Gesellschaft gedeiht. In Kiew wird mehr Russisch als Ukrainisch gesprochen. De facto ist das Land zweisprachig. Die Gefahr, die Putin – nicht Russland – von der Ukraine droht, besteht darin, dass dort ein freies Land wie Polen oder die baltischen Staaten entsteht. Als Demokratie war die Ukraine bisher sehr erfolgreich.

Wirtschaftlich gesehen ist die Ukraine jedoch ein Flop.
Die Regierung von Viktor Janukowitsch war sehr, sehr schlecht. Als ich vor zehn Tagen in Kiew war, sagte mir ein Journalist: Wir konnten zwar über alles schreiben, aber die Wirkung war gleich null. Was wir unter der Regierung Janukowitsch erlebt haben, war mehr als Korruption, das war eine eigentliche Plünderung. Sie sind wie eine wilde Horde über das Land hergefallen. Wenn Sie die Fotos der Villa von Janukowitsch gesehen haben, dann können Sie sich ein Bild von der vulgären Verschwendung dieser Clique machen. Ein solcher Raubzug macht ein Land ziemlich schnell arm. 

Die Villa Janukowitschs.Quelle: YouTube/ExcitingClips
Antonio Navarria, einer der letzten Köpfe des führenden Mafiaclans in Ostsizilien wird von zwei Carabinieri abgeführt (1995). 
Antonio Navarria, einer der letzten Köpfe des führenden Mafiaclans in Ostsizilien wird von zwei Carabinieri abgeführt (1995). Bild: AP

Wie schlecht geht es den Menschen?
Man trifft auf ähnliche Verhältnisse wie in Süditalien. Es herrscht Massenkorruption, doch gleichzeitig täuschen die offiziellen Zahlen. Es geht den Menschen besser, als die Statistiken suggerieren. Kiew beispielsweise hat nun drei Monate soziale Unruhe hinter sich. Eigentlich hätte ich Hunger und Verwüstung erwartet. Doch es gibt wunderbare Restaurants und Cafés. Sie sind voll und die Frauen sind modisch gekleidet und tragen Pelzmäntel.  

Trotzdem: Das russische Pro-Kopf-Einkommen ist mehr als dreimal höher als in der Ukraine.
Die Ukrainer wollen das russische Modell nicht nachahmen. Sie wissen, dass die russische Wirtschaft sehr viele Probleme hat und nur dank hoher Energiepreise über die Runden kommt. 

Woher kommt die Liebe der Ukrainer zum Westen und zur EU?
Die Liebe gilt weniger dem Westen als Polen und den baltischen Staaten. Die Ukrainer wissen, dass ihr Lebensstandard zu Beginn der 1990er-Jahre etwa gleich hoch war wie derjenige der Polen. Jetzt sehen sie den Unterschied. Sie möchten nicht wie die Russen, sondern wie die Polen und die Balten leben. Das war das treibende Motiv der Maidan-Proteste.

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Bild: UEFA

Was ist mit den Faschisten, die angeblich die Ukraine übernehmen wollen?
Es gibt einen rechten Flügel in der ukrainischen Politik, kein Zweifel. Seine Stärke lässt sich vergleichen mit den Rechten in den Niederlanden oder Frankreich. Die Faschismusthese von Putin ist jedoch eine Rückkehr zum Stil der sowjetischen Propaganda. 

Was ist von der Behauptung zu halten, die Ukrainer würden die Russen unterdrücken?
Wenn jemand die Russen unterdrückt, dann ist es Putin. Er selbst ist der gefährliche Faschist. Er hat die Webseiten der Opposition geschlossen, politische Aktivisten unter Hausarrest gestellt, Gegner des Regimes verprügeln und Büros von Nichtregierungsorganisationen schliessen lassen. Die gefährlichen Nationalisten sitzen im Kreml, nicht in Kiew. 

Für welche Wirtschaftspolitik steht Putin? Ist er ein Marktliberaler oder will er zurück zur Planwirtschaft der UdSSR?
Ich habe in ihm nie einen progressiven Modernisierer gesehen. Er hat vom ersten Tag an begonnen, die Pressefreiheit einzuschränken. Putin ist ein Mann der alten, sowjetischen Elite. Diese Elite war einst sehr mächtig und hat ihre Macht in den 1990er-Jahren schlagartig verloren. Wir sind uns dessen viel zu wenig bewusst: Diese Männer waren einst furchteinflössend – und plötzlich waren sie arbeitslos. Sie waren nicht nur gekränkt, sie waren halb wahnsinnig vor Wut.

Ein sowjetisches Propagandaposter aus den 1930ern: «Fünfjahresplan – wir entwickeln uns von einer Agrarnation zur industriellen Nation!»
Ein sowjetisches Propagandaposter aus den 1930ern: «Fünfjahresplan – wir entwickeln uns von einer Agrarnation zur industriellen Nation!»Bild: Universal Images Group Editorial

Woher kommt der Nationalismus?
Die Oligarchen der 1990er-Jahre, Beresowski, Chodorkowski etc. waren alle Juden. 

Sind die neuen Oligarchen Russen?
Die meisten, ja. Putin profitiert somit auch vom unterschwelligen Gefühl: Jetzt haben die Russen wieder das Sagen.

Es wird derzeit viel von einem neuen Kalten Krieg gesprochen. Was ist davon zu halten?
Putin hat keine vollständige politische Ideologie wie die ehemalige Sowjetunion. Er denkt nur an seine persönliche Macht. 

Stalin im Februar 1950.
Stalin im Februar 1950.Bild: AP

Was unterscheidet die neuen Oligarchen von der alten sowjetischen Elite?
Die Elite der UdSSR war zwar mächtig und furchteinflössend. Ihre Mitglieder lebten aber bescheiden. Ich konnte in den 1990er-Jahren ihre Datschas besuchen. Sie waren für westliche Verhältnisse geradezu schäbig eingerichtet. Jeder Durchschnittsschweizer lebt weit besser. Das ist übrigens auch ein Grund, warum die Sowjetunion implodiert ist. Die Elite hat gemerkt, dass es sich letztlich nicht lohnt. 

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Welche Lehre hat man daraus gezogen?
Zuerst dachte man: Wer Wohlstand will, muss auch die Demokratie akzeptieren. Dank Putin haben die neuen Oligarchen realisiert: Man kann ein Diktator sein und trotzdem unvorstellbaren Wohlstand geniessen. Mit anderen Worten: Man kann regieren wie Stalin und leben wie Abramowitsch. 

Propagandaposter aus dem Jahr 1949: «Geliebter Stalin – Freude der Nation!»
Propagandaposter aus dem Jahr 1949: «Geliebter Stalin – Freude der Nation!»Bild: Popperfoto

Ist das nicht der wunde Punkt von Putin? Er gefährdet mit seiner Politik den Abramowitsch-Lebensstil der Oligarchen.
Ja, deshalb hat der Westen jetzt – anders als im Kalten Krieg – mehr Einflussmöglichkeiten. Andererseits macht es uns auch verwundbarer. Für den Bankenplatz London – und wahrscheinlich auch für die Schweiz – sind die russischen Plutokraten ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden. 

Wer kontrolliert wen in Russland? Putin die Oligarchen – oder die Oligarchen Putin?
Putin hat tatsächlich die Fäden in der Hand. Jelzin hat sich erstaunlicherweise persönlich kaum bereichert, und ich habe damals aus seinem Umfeld auch Stimmen gehört, die gesagt haben: Warum überlassen wir eigentlich den ganzen Reichtum den Oligarchen? Putin hat diesen Fehler nicht gemacht. 

Ist er also so sagenhaft reich, wie gemunkelt wird?
Ich habe dafür keine Beweise, wäre aber sehr erstaunt, wenn es nicht der Fall wäre. Schon der Reichtum von Janukowitsch ist erstaunlich und Putin ist viel länger im Amt und in einem viel grösseren Land. Er ist auch wirklich mächtig. Das hat der Rollentausch mit Medwedew gezeigt. Es war eine eindrückliche Machtdemonstration – grösser als wenn er selbst im Amt geblieben wäre. Das haben auch alle begriffen. Medwedew wurde von den Russen stets als lächerliche Figur betrachtet. 

Sowjetische Propaganda (1931): «Komm, Genosse, trete unserer Kolchose bei!»
Sowjetische Propaganda (1931): «Komm, Genosse, trete unserer Kolchose bei!»Bild: Universal Images Group Editorial
«In einer Demokratie werden auch die Schwächen unserer führenden Persönlichkeiten sichtbar.»
Chrystia Freeland.

Ist Putin demnach allmächtig geworden?
In gewisser Hinsicht schon. Aber wir tendieren dazu, die Macht von Diktatoren zu überschätzen. Wer hätte Ende der 1980er-Jahre daran gedacht, dass die UdSSR zusammenkrachen würde? Und Kasparow hatte zu Recht getwittert: Wenn nur ein Gericht auf der Menükarte steht, dann ist es nicht erstaunlich, wenn alle es bestellen.

Das leuchtet für Russland ein. Warum aber hat Putin auch im Westen viele Fans?
Für mich ist das rätselhaft. In einer Demokratie werden auch die Schwächen unserer führenden Persönlichkeiten sichtbar. Das lässt sich nicht vermeiden, auch nicht, dass es manchmal ein bisschen lange geht, bis auf Worte Taten folgen. Aber es ist kein Grund, im Machoverhalten von Diktatoren Anzeichen von Stärke und Durchsetzungskraft zu erblicken. Das ist nur lächerlich. Die meisten westlichen Bewunderer von Putin sind wahrscheinlich noch nie in Russland gewesen. Es ist ja bezeichnend, dass selbst die Angehörigen der russischen Elite möglichst nicht in Russland leben wollen. Sie haben Häuser in St. Moritz, London, New York und der Karibik und schicken ihre Kinder auf westliche Eliteschulen.  

«Ich bin erstaunt, wie dieser Konflikt die Menschen in der Ukraine zusammenschweisst.»
Chrystia Freeland.

Wie wird der Konflikt um die Krim und die Ukraine enden?
Mittelfristig bin ich optimistisch. Ich bin erstaunt, wie dieser Konflikt die Menschen in der Ukraine zusammenschweisst. Zudem: Es ist die dritte Revolution innerhalb von rund zwölf Jahren. Es gibt so etwas wie das Gefühl: Diesmal wollen wir es richtig machen. Was spielt der Westen für eine Rolle? Putin hat ein Eigentor geschossen. Die Ukraine erhält nun vom Westen Hilfe, die sie ohne die Krise niemals erhalten hätte. Wäre ich eine Beraterin von Putin gewesen, dann hätte ich ihm nach Ausbruch der Maidan-Revolution gesagt: Am besten machst du gar nichts.

Wird es zu einem Krieg kommen?
Die Ukraine ist nicht Tschetschenien. Das war ein sehr hässlicher Krieg mit bis zu 50'000 Toten. Die russische Armee ist eine Milizarmee. In der Ukraine haben die Russen Familienangehörige und Bekannte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Lust darauf haben, dort ein Blutbad anzurichten.

Lesen Sie mehr zur Krim-Krise und zu den russischen Oligarchen.

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