José Manuel Barroso sprach Klartext. Die EU könne nicht akzeptieren, dass eines ihrer Mitglieder unterschiedlich behandelt werde, sagte der EU-Kommissionspräsident am Montag vor Schweizer Journalisten und fügte an: «Was würde die Schweiz sagen, wenn die EU die Personenfreizügigkeit nur mit einzelnen Kantonen akzeptieren würde?»
Damit bezog sich der Portugiese auf die Entscheidung des Bundesrats, die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien vorerst zu suspendieren. Die Retourkutsche erfolgte prompt: Die EU legte die Verhandlungen über das Forschungsabkommen «Horizon 2020» und das Studentenaustauschprogramm «Erasmus+» auf Eis.
Die harsche Reaktion aus Brüssel zeigt: Auf viel Goodwill darf die Schweiz bei den anstehenden Verhandlungen über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative nicht hoffen. Das beginnt mit der Knacknuss Kroatien. Die Schweiz muss einen Weg finden, um den 28. und jüngsten Mitgliedsstaat der Union nicht nachhaltig zu verärgern. Denn bilaterale Verträge müssen nicht nur von Brüssel, sondern von allen Mitgliedern abgesegnet werden.
Nur schon die Integration von Kroatien in die nun in der Verfassung festgehaltene Kontingentsregelung gemahnt an eine Quadratur des Kreises. Bei den weiteren Verhandlungen sieht es nicht viel besser aus, denn die in den letzten Tagen oft beschworenen Trümpfe der Schweiz erweisen sich bei näherer Betrachtung als ziemlich wertloses Blatt:
Zum Beispiel die Sperrung der Transitrouten, die an Stammtischen gerne als «Beweis» für die starke Position der Schweiz angeführt wird. Christoph Blocher hieb im Interview mit dem «Spiegel» in die gleiche Kerbe: «Der Gotthard liegt in diesem kleinen Land. Wenn die EU den Vertrag kündigt, können wir mit dieser Strasse ja machen, was wir wollen.»
Schön und gut. Nur könnte Deutschland im Gegenzug seinen Luftraum für Flüge von und nach Zürich-Kloten vollständig sperren. Frankreich könnte Ähnliches im Fall von Genf-Cointrin verfügen. Beide wären rechtlich auf der sicheren Seite, wie die Schweiz in den letzten Jahren im Fluglärmstreit mit Deutschland zu ihrem Leidwesen erfahren musste.
Oder wie steht es mit dem Verweis auf die angeblich so starke Position der Schweiz als viertgrösster Handelspartner der EU? Wenn ihr nicht nachgebt, kaufen wir einfach in Asien ein, tönt es da und dort. «Was ihr könnt, das können wir auch!» wird die EU zurückrufen. Wer würde in einem solchen Fall wohl mehr leiden? Vermutlich die Schweiz, die mehr als 50 Prozent ihrer Exporte nach Europa liefert.
Ein weiterer Schweizer Trumpf aus Sicht von SVP-Stratege Blocher sind die Verhandlungen zur Erweiterung des Zinsbesteuerungsabkommens, mit der die EU Steuerschlupflöcher schliessen will. Jacques de Watteville, der Staatssekretär für internationale Finanzfragen, verpasste diesen Hoffnungen am Montag einen herben Dämpfer.
Mit dem automatischen Informationsaustausch – der via OECD ohnehin kommen wird – werde das Zinsbesteuerungsabkommen in einigen Jahren obsolet sein: «Notfalls kann die EU warten.» In den Verhandlungen mit der EU sitzt die Schweiz in jeder Hinsicht am kürzeren Hebel. Das weiss man in Brüssel ebenso wie in Bern.
Selbst einige Schweizer Politiker haben die Realität erkannt, etwa BDP-Präsident Martin Landolt. «Wir haben schon Trümpfe, aber Buur, Nell und Ass sind auf der Gegenseite», sagte der Glarner Nationalrat am letzten Freitag in der SRF-«Arena». Der frühere Chefdiplomat Jakob Kellenberger, der die Bilateralen I ausgehandelt hatte, drückte es im Interview mit watson so aus: «Ich stelle immer wieder fest, wie schwer es uns fällt, in unserer Beziehung zu Europa die richtige Temperatur zwischen Defätismus und Überheblichkeit zu finden.»
In der Tat erstaunt es immer wieder, wie die Schweiz in aussenpolitischen Fragen in Selbstüberschätzung verfällt. So war es 2003, als das Parlament in einem Anfall von patriotischem Furor den Staatsvertrag mit Deutschland zum Flughafen Zürich versenkte. Heute muss die Schweiz nach der Pfeife Berlins tanzen.
Oder als Finanzminister Hans-Rudolf Merz 2008 dem Ausland den vermeintlichen Tarif durchgab: «Am Bankgeheimnis werdet ihr euch die Zähne ausbeissen.» Heute ist das Bankgeheimnis nur noch ein zahnloser Papiertiger. Realistisch betrachtet hat die Schweiz deshalb im Jass mit der EU das deutlich schlechtere Blatt. Was nicht heisst, dass mit einem gewissen zeitlichen Abstand nicht doch ein Deal möglich wäre.
Doch im Gegensatz zu den Bilateralen I, als die Schweiz bei der Personenfreizügigkeit grosszügige Übergangsfristen zum Nulltarif erhielt, wird die EU für jede Konzession einen hohen Preis fordern. Den «fremden Richtern» des EU-Gerichtshofs wird sie sich ohne Einschränkungen unterwerfen und die Weiterentwicklung des EU-Rechts automatisch übernehmen müssen.
Staatssekretär Yves Rossier machte sich nach seinem Treffen mit EU-Chefdiplomat David O'Sullivan am Donnerstag in Brüssel keine Illusionen: Es sei schwierig, sich vorzustellen, wie man die Initiative umsetzen könne, ohne das Abkommen zur Personenfreizügigkeit zu verletzen. Zu befürchten ist allerdings, dass zu viele in der Schweiz diese Tatsache nicht wahrhaben wollen und weiter über die «starken Trümpfe» schwadronieren.
Die Wirtschaftsmacht Schweiz ist politisch ein Eunuch, nicht weil sie dazu gemacht wurde, sondern weil sie sich selbst kastriert hat. Dann aber soll man nicht mit einer Potenz angeben, die man nicht hat.