Mehr Wohnungen als je zuvor stünden leer, warnt Mark Branson. Der Chef der Finanzmarktaufsichtsbehörde Finma sagt zur Veranschaulichung: «Stellen Sie sich dazu eine Geisterstadt vor in der Grösse von Bern oder Lausanne oder dem gesamten Kanton Schwyz, in dem jede einzelne Wohnung leer steht.»
Als Branson vor den Folgen solcher «Geisterstädte» warnt, stehen 70'000 Wohnungen leer. Es ist Frühling 2019.
Im Sommer 2020 wird eine mittlere «Geisterstadt» hinzugekommen sein. Die Ökonomen der Schweizer Grossbank UBS erwarten knapp 85'000 leer stehenden Wohnungen.
Damit erreicht der Bauboom eine historische Marke. Gemessen am Total aller rund 4,5 Millionen Wohnungen werden 1,9 Prozent leer stehen. Diese Leerwohnungsziffer wird vom Bundesamt für Statistik seit dem Jahr 1980 herausgegeben. Bisher wurde noch kein höherer Wert erreicht.
Der letzte Rekord stammt noch aus den späten Neunzigerjahren. Im Jahr 1998 wurde in der damaligen Immobilienkrise eine Leerwohnungsziffer von 1,85 Prozent vermeldet. Diese Marke blieb bis zu diesem Jahr unerreicht, 21 Jahre lang.
«Jetzt ist der Mieter König», titelt der Blick damals triumphierend. Die Boulevardzeitung vermeldete, die Wohnungsnot sei nun passé. Eine Flucht habe eingesetzt: Raus aus unbequemen Klein- und Altwohnungen, und hinein in grössere und besser gelegene Wohnungen. «Die Schweizerinnen und Schweizer werden schnäderfrässiger.»
Was den Leerstands-Boom noch das letzte Stückchen hoch gepusht hat zum Allzeitrekord – das war das Coronavirus. Wie UBS-Ökonom Matthias Holzhey erklärt, werden 2020 deutlich weniger Wohnungen nachgefragt, als es ohne Wirtschaftskrise der Fall gewesen wäre.
«Die Beschäftigungsaussichten sind düster», meldete das Bundesamt für Statistik diese Woche. Die Folgen gehen bis in den Alltag hinein. Mehr Jugendliche müssen nach der Ausbildung länger nach dem ersten Job suchen. Sie mieten keine Wohnungen, gründen keine WG, sondern bleiben notgedrungen im Hotel Mama. Die Wirtschaft rekrutiert weniger neue Mitarbeiter im Ausland – so wandern weniger Menschen ein und brauchen eigene vier Wände.
Auf diesen Einbruch reagieren Bauwirtschaft und Investoren vergleichsweise träge. Die Gesamtwirtschaft bricht dieses Jahr ein wie zuletzt in der Erdölkrise der 1970er-Jahre. Dennoch werden auch dieses Jahr nochmals gut 50'000 Wohnungen hingestellt – zu viele.
Und damit geht der Leerstands-Boom in sein siebtes Jahr hinein. Seit dem Jahr 2013 sind jedes Jahr mehr leere Wohnungen dazu gekommen. Und dennoch ficht es die Investoren anscheinend nicht an. Es hat schon zu viele Wohnungen. Sie stellen nochmals mehr in die Landschaft, als es braucht. Ist der Immobilienmarkt vollkommen aus den Fugen geraten?
Nicht vollkommen. «Wohnbau weiterhin am falschen Ort», titelten die UBS-Ökonomen noch im Winter 2019. Es wurde zu viel gebaut, und das auch noch am falschen Ort. Dort, wo Vermieter ohnehin mit allerlei Goodies locken müssen. Der Markt war doppelt aus den Fugen. Nun ist er zumindest teilweise eingerenkt.
Noch immer wird zu viel gebaut, nun aber mehr am richtigen Ort. Wie die UBS-Ökonomen feststellen konnten, wird nun weniger im Aargau oder Thurgau gebaut, wo ohnehin viel leer bleibt. Sondern mehr dort, wo Wohnungen knapp sind: in den Agglomerationen von Zürich, Genf oder Luzern.
Es sind vor allem Mietwohnungen, die leer stehen. Auf zehn leere Wohnungen kommen jeweils bloss zwei Eigentumswohnungen, aber acht Mietwohnungen. Schweizweit sind damit rund 3 Prozent aller Mietwohnungen nicht bewohnt. Auch das ist ein Rekordwert.
Die Mieter sollten nunmehr Könige sein. Wenn nicht jetzt, wann dann? Leider ist es kompliziert. In einer Studie diskutierten Bankökonomen kürzlich auf über fünf Seiten die nur scheinbar simple Frage: Sinken die Mieten wirklich? Die Antwort: Es sei eine Frage der Definition und der Perspektive.
Die eine Sichtweise ist: Die Mieten jener Wohnungen sinken, die neu angeboten werden. Diese Angebotsmieten sind über 5 Prozent tiefer als vor fünf Jahren. Sucht Familie Müller eine neue Wohnung, ist sie darum weniger arm dran als vor fünf Jahren. Bankökonomen freut es: «Der Markt funktioniert, wenn auch sehr träge.»
Die andere Sicht ist: Familie Müller ist noch immer arm dran. Die neue Wohnung ist teurer als die alte. Wer sich bewegt, verliert. Das gilt vor allem, wenn Familie Müller viele Jahre in der gleichen Wohnung lebte und in einer beliebten Gegend. Ihre Miete blieb fast gleich. Derweil sind die Mieten von neu angebotenen Wohnungen noch immer rund 25 Prozent höher als vor 20 Jahren. Allzu königlich ist das Dasein als Mieter also nicht. Der Mieterverband schreibt wütend: «Mieten steigen und steigen – trotz Leerständen.»
Gleichwohl ist es auch für Investoren ein riskantes Spiel. Vor allem, wenn die Behörden mit ihren Warnungen recht bekommen sollten. Diese mögen vielleicht öfter Mal ihr Schicksal als Warner verfluchen. Der Boom währt über zehn Jahre, ein Crash ist noch immer nicht da.
Dennoch warnt die Finanzmarktaufsichtsbehörde Finma weiterhin zu den Mietwohnungen. Ein Sprecher: «Der Markt für Renditewohnliegenschaften zeigte bereits vor Ausbruch der Coronakrise eine deutliche Tendenz zur Überhitzung.»
Ein klassisches Phänomen zeigt sich: Wie immer in langen Boomphasen drängen kleine private Investoren spät hinein. Sie vermieten typischerweise nur eine oder zwei Wohnungen. Ihr Geschäftsmodell wird «buy-to-Let» genannt. Wohnungen werden gekauft, um sie weiter zu vermieten. Der Boom hält schon so lange. Sie glauben nicht mehr an die Warnungen. Sie wollen den Negativzinsen entfliehen.
Diese privaten Kleininvestoren kann es besonders hart treffen, wenn der Wettbewerb um Mieter härter wird, weil sich «Geisterstädte» verbreiten. Wie der Finma-Sprecher sagt: «Solche privaten Investoren sind schlechter diversifiziert als professionelle Investoren. Ein Mietausfall wirkt sich einschneidend auf die Ertragssituation aus.»