Europa ist out – Grossmächte und aufstrebende Schwellenländer sind in. Zu diesem Schluss kommt, wer die Reisetätigkeit der Bundesräte in den vergangenen zwölf Monaten studiert. Fünf Bundesräte machten sich etwa auf nach China. Das Resultat ist ein Freihandelsabkommen mit dem Reich der Mitte.
Auch Russland wird im Rahmen einer zelebrierten Freundschaft regelrecht bezirzt. Ohne den Konflikt in der Ukraine stünde ein Freihandelsabkommen zwischen den Efta-Staaten und Moskau kurz vor dem Abschluss. Brasilien und Indien als grosse, bevölkerungsreiche Nationen folgen auf den nächsten Plätzen der zukunftsträchtigen Märkte. Wer da nicht präsent ist, verliert den Anschluss.
Gewiss: Das Handelswachstum mit diesen Ländern ist eindrücklich und Entwicklungspotenzial zweifellos vorhanden. Allerdings ist das Ausgangsniveau nach wie vor bescheiden. Die grossen, aufstrebenden Staaten sind für die Schweiz wirtschaftlich meist weniger wichtig als unsere verhältnismässig kleinen, direkten Nachbarregionen, wie Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft zeigen.
Das eindrücklichste Beispiel ist das deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Das Handelsvolumen zwischen den schwäbischen Nachbarn und der Schweiz ist ungefähr gleich gross wie dasjenige mit der weltgrössten Volkswirtschaft USA. Und es ist drei Mal so gross wie mit Brasilien, Russland und Indien zusammen.
Das hat historische Gründe: Die süddeutschen Alemannen und die Deutschschweizer waren sich – bei aller Rivalität – sprachlich, kulturell und von der Mentalität her schon immer sehr nahe. Das hat den Austausch über den Rhein begünstigt. In der Ostschweiz etwa waren die Handelspartner auf der anderen Seite des Bodensees während Jahrhunderten wichtiger als die Miteidgenossen westlich von Zürich. Entsprechend schwer tat man sich dort im 19. Jahrhundert mit der Einführung des Schweizer Frankens und des in Bern konzipierten schweizerischen Binnenmarkts.
Doch auch die norditalienischen Regionen sind eminent wichtige Handelspartner für unser Land. Insbesondere die Lombardei und das Piemont sind hervorragende Kunden und Verkäufer. Der Austausch mit der Grossregion Mailand-Turin ist grösser als jener mit China und fast doppelt so gross wie mit der ostasiatischen Wirtschaftsmacht Japan. Russland (144 Millionen Einwohner), Brasilien (rund 200 Millionen) oder der 1.2-Milliarden-Staat Indien sind im Vergleich dazu Peanuts.
Selbst die kleinen österreichischen Bundesländer Vorarlberg (376 000 Einwohner) und Tirol (715 000) sind wichtig. Das Handelsvolumen zwischen der Schweiz und Tirol etwa ist grösser als jenes mit Russland oder Brasilien. Dem Bundesland wird aber nicht ein Bruchteil der Aufmerksamkeit geschenkt, die Moskau und Brasilia zuteil wird.
Die Zahlen zeigen, wie entscheidend für das wirtschaftliche Gedeihen der Schweiz die unmittelbaren Nachbarregionen sind. Zusammen machen sie gut 21 Prozent des gesamten Aussenhandels aus. Die vier grossen Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich haben gar einen Anteil von 44 Prozent, die EU insgesamt von gut 60 Prozent am schweizerischen Aussenhandel, der sich 2012 laut der eidgenössischen Zollverwaltung auf knapp 400 Milliarden Franken belief.
Trotz dieser Bedeutung der Nachbarschaft kümmert sich Bundesbern nicht prioritär um diese Beziehungen. Bundesrätliche Reisen nach Peking und New Delhi sind prestigeträchtiger als ein Abstecher nach Innsbruck, Mailand oder Lyon. Es gibt im Aussendepartement zwar eine Dienststelle, die sich um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit kümmert; doch grundsätzlich ist die Nachbarschaftspolitik Sache der Kantone. Bundesräte treffen selten politische Vertreter der Nachbarregionen. Einzige Ausnahme ist Baden-Württemberg, dessen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Bern ein grosser Empfang bereitet wurde.
Die Zahlen zeigen schliesslich auch, wie wichtig ein geregeltes Verhältnis sowohl mit den Nachbarstaaten als auch mit der EU ist. Es liegt auf der Hand, dass eine Zerrüttung mit Brüssel negative Auswirkungen auf diese Handelsströme hätte.