Die Prognosen der Swiss-Life-Ökonomen gelten als überdurchschnittlich treffsicher. Trifft dies auch für das laufende Jahr zu, dann können wir beruhigt schlafen. Anders als in anderen Ländern wird unsere Wirtschaft nicht in eine Rezession abgleiten, sondern unser Bruttoinlandprodukt (BIP) wird um 0,8 Prozentpunkte zulegen.
Auch die Arbeitslosigkeit – aktuell bei 1,9 Prozent – wird sich nur unwesentlich auf 2,1 Prozent erhöhen. Weil China die Lockdown-Politik aufgehoben hat, werden unsere Exporte ins Reich der Mitte wieder wachsen; und – was besonders tröstlich ist – die Inflation wird unter 2 Prozent sinken.
Dass die Schweiz zumindest ökonomisch gesehen eine Insel der Glückseligkeit ist, meldet auch der «Tages-Anzeiger». Zehn Punkte listet das Blatt auf, die unsere Wirtschaft zu einem Sonderfall machen. Angefangen von der Tatsache, dass sich unser Land in der Pandemie als besonders krisenfest erwiesen hat, über ein solides Bildungssystem und grundsolide Finanzen bis hin zu tieferen Kosten dank eines starken Frankens werden die Erfolgsfaktoren säuberlich aufgelistet. Alles paletti, also?
Nicht ganz. Die Fakten zeigen zwar unwiderlegbar, dass die Schweizer Wirtschaft besser als die meisten anderen durch die Pandemie und die Energiekrise gekommen ist. Auch die Gründe dafür sind bekannt: Weil wir keine Energiefresser wie Stahlunternehmen oder Chemiewerke haben, leiden wir weniger unter der Energiekrise. Und der starke Franken hat uns vor einer Inflation im zweistelligen Prozentbereich verschont.
Geht es jedoch darum, wie die Früchte dieses Erfolgs verteilt werden, dann scheiden sich die Geister. Derzeit tobt ein heftiger Streit, ob es Otto Normalverbraucher tatsächlich so gut geht wie noch nie – oder ob dies alles bloss eine Schimäre ist.
Angezettelt hat diesen Streit ausgerechnet die «NZZ». Kurz vor Weihnachten berichtete das Blatt – gestützt auf eine Studie von David Marmet, dem Chefökonomen der Zürcher Kantonalbank –, dass die Schweizer Wirtschaft zwar wachse, aber leider nur in die Breite. Das Wachstum sei nicht etwa qualitativ, sondern bloss quantitativ und vor allem durch die Zuwanderung getrieben. «Die insgesamt rund 300’000 in der Schweiz zwischen Herbst 2017 und Herbst 2022 neu geschaffenen Stellen – viele davon durch Zuwanderung – haben das allgemeine Wohlstandsniveau also kaum erhöht», so die ernüchternde Feststellung der «NZZ».
Das bedeute, dass zwar das BIP gewachsen sei, das BIP pro Kopf hingegen stagniere, ja, teilweise gar rückläufig sei, so die «NZZ» weiter. Das BIP pro Kopf, «das als Mass für den Wohlstand des Einzelnen relevanter ist als das absolute BIP, (dürfte) im Jahr 2023 schrumpfen».
Rückendeckung erhält die «NZZ» von der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF). Auch sie hatte in einer Studie festgehalten, dass das Wachstum des Schweizer BIP primär Input-getrieben sei, will heissen: von mehr Arbeitskräften und grösserem Materialeinsatz, nicht aber von einem Zuwachs an Produktivität. Produktivitätswachstum ist jedoch so etwas wie der Heilige Gral der Ökonomen. Wächst die Produktivität nicht, dann stagniert auch der Wohlstand, so die simple Gleichung.
Auch punkto Produktivitätswachstum ist die Schweiz ein Sonderfall, allerdings im negativen Sinn. Die «NZZ» fasst die Ergebnisse der KOF-Studie wie folgt zusammen: «So ist die Schweiz vor allem seit 2010 gegenüber den meisten Nachbarn ins Hintertreffen geraten; nur das Sorgenkind Italien wächst noch schwächer.»
Otto Normalverbraucher guckt gemäss dieser These demnach in die Röhre, ja, schlimmer noch, er bekommt vor allem die Schattenseiten des Wirtschaftswachstums zu spüren: Steigende Mieten, weil die Zuwanderer Wohnungen brauchen, stärkere Belastung von Infrastrukturen, Schulen und der Umwelt. Das ist natürlich auch Wasser auf die Mühlen der SVP. Sie wird die aktuell rekordhohe Zuwanderung zum Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne machen.
Nur: Stimmt die These des stagnierenden Pro-Kopf-Einkommens überhaupt? Wächst die Schweizer Wirtschaft tatsächlich nur in die Breite? Nein, sagt Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Der erfahrene Ökonom hat ebenfalls in der «NZZ» die Argumente für eine angebliche «Produktivitätsschwäche» zerpflückt.
Zürcher verweist darauf, dass sich die Arbeitszeit in der Schweiz verkürzt hat. 1991 arbeitete eine erwerbstätige Person in der Schweiz durchschnittlich 1718 Stunden im Jahr, 2021 waren es noch 1534 Stunden. «Das allein generiert einen kaum zu vernachlässigenden Wohlstandszuwachs», so Zürcher.
Kommt dazu, dass das Wachstum der Produktivität – anders als das BIP-Wachstum – sehr schwierig zu messen ist. Es existieren von Land zu Land verschiedene Methoden, die zu unterschiedlichen Resultaten kommen. Zudem sind auch die Ursachen des Produktivitätswachstums nicht immer wünschenswert. Eine hohe Arbeitslosigkeit hat beispielsweise die belgische Wirtschaft produktiver gemacht.
Wer hat nun recht im Wohlstandsstreit? Eine schlüssige Antwort gibt es nicht, und vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. Die Klimaerwärmung stellt uns vor Herausforderungen, die weder mit Produktivitäts-, noch mit BIP-Wachstum gemeistert werden können. Unsere Wirtschaft muss längerfristig nicht mehr effizienter werden. Vielmehr geht es darum, dass sie sich möglichst rasch den veränderten Umweltbedingungen anpasst. Mit anderen Worten: Die Wirtschaft muss resilienter werden.
- Seit mehreren Jahren schrumpft das BIP pro Kopf
- Die Innovationskraft ist verglichen mit anderen (westlichen) Ländern bedenklich ins Hintertreffen geraten.
- Unsere Wirtschaft wächst nur wegen einer Nettozuwanderung von 70000 Menschen pro Jahr. Ansonsten wäre sogar das reale BIP negativ und wir hätten eine Rezession.
Ich bin darum mittlerweile soweit, dass ich einer Initiative zur Begrenzung (Steuerung) der Zuwanderung zähneknirschend zustimmen würde.
Dies weil alle Alternativen noch schlechter sind…