Als Jeff Bezos zehnjährig war, wollte er seiner Grossmutter das Rauchen austreiben. Er flehte sie nicht an oder bat sie darum, er sagte bloss jedes Mal, wenn sie inhalierte: «Schon wieder ein paar Minuten deines Lebens verpufft», und rechnete ihr vor, dass sie bisher insgesamt neun Jahre vergeudet habe. Die Grossmutter brach in Tränen aus.
Tränen begleiten Jeff Bezos auch als CEO bei Amazon. So erzählt beispielsweise der ehemalige Amazon-Manager Bo Olson in der «New York Times»: «Du verlässt einen Konferenzraum und siehst, wie erwachsene Männer ihre Hände vor das Gesicht halten. Fast jede Person, mit der ich zusammengearbeitet habe, habe ich mindestens einmal am Pult weinen sehen.»
«Die Hölle, das sind die anderen», heisst es bei Jean-Paul Sartre. Jeff Bezos sieht das anders. Die Hölle, das sind wir selbst, könnte man seine Geschäfts-Philosophie umschreiben. Er hält nichts von Kuschel-Kultur. «Arbeite hart» ist das erste Gebot, das jedem frisch eintretenden Mitarbeiter eingetrichtert wird.
Hart zu arbeiten, dass bedeutet konkret, dass man auch nach Mitternacht noch E-Mails erhält und gerügt wird, wenn diese nicht sofort beantwortet werden. 100-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit. 40-jährige Manager fürchten, dass sie von 30-Jährigen verdrängt werden, weil diese mehr Kondition haben, und 30-Jährige, dass bald 20-Jährige sie ersetzen.
Als ein gewisser Max Shipley, Vater von zwei Kindern, die Schnauze voll von diesem Wahnsinns-Wettbewerb hatte, fragte er zynisch: «Wann wird Amazon College-Kids anheuern, die single sind, keine Verpflichtungen haben und sich noch mehr auf die Arbeit konzentrieren können?» Shipley ist 25-jährig.
Die «New York Times» hat in ihrer Wochenend-Ausgabe eine Reportage über die Arbeitskultur von Amazon veröffentlicht und damit viel Staub aufgewirbelt. Kein Wunder. «Zielgerichteter Darwinismus» lautet die Philosophie dahinter. Das bedeutet mehr als nur harte Arbeit.
Amazon funktioniert wie eine Sekte. Mitarbeiter werden angehalten, sich gegenseitig hart zu kritisieren, bis hin zur Demontage. Jedes Jahr werden diejenigen gefeuert, die am meisten Verzeigungen von anderen erhalten haben.
Bei Amazon gibt es jede Menge von Ritualen und Regeln, die man auswendig kennen muss. Manche bringen sie sogar ihren Kindern bei. Arbeit ist nicht Broterwerb, sondern eine «Mission». Wer krank ist oder schwanger, muss damit rechnen, auf eine niedrigere Hierarchiestufe versetzt zu werden.
Jeff Bezos ist ein Datenfreak. Alles und jedes wird gemessen, Algorithmen sind allmächtig. «Wenn du ein guter Amazon-Mitarbeiter sein willst, dann musst du ein Amabot (Amazon-Roboter) werden», heisst es.
Idiotisch lange Arbeitszeiten und totale Loyalität gegen viel Geld ist ein Rezept, das auch an der Wall Street und im Silicon Valley gerne verschrieben wird. Banker bei Goldman Sachs und Unternehmer wie Elon Musk sind ebenfalls berühmt-berüchtigt dafür. Bezos geht scheinbar noch einen Schritt weiter. «Selbst die Amazon-Mitarbeiter, die an der Wall Street oder bei Start-ups gearbeitet haben, erklären, dass die Arbeitsbelastung im Amazon-Hauptquartier South Lake Union extrem sein kann», schreibt die «New York Times».
Andere Tech-Giganten wie Google oder Facebook versüssen die Arbeit ihrer Mitarbeit mit Gratis-Catering und anderen Annehmlichkeiten. Bei Amazon gibt es nichts dergleichen. Spartanische Askese ist angesagt. Billigstes Büromaterial muss genügen, Smartphone-Rechnungen müssen oft selbst beglichen werden – und von Gratismahlzeiten träumt man als Amazon-Mitarbeiter nicht einmal.
Selbstverständlich wird erwartet, dass man auch in den Ferien jederzeit erreich- und verfügbar ist, wenn man die Frechheit besitzt, überhaupt in die Ferien zu gehen. Mutterschaftsurlaub ist ein Fremdwort. Dass es auch anders geht, zeigt Netflix: Dort kann jeder Mitarbeiter so lange Ferien machen, wie es ihm gefällt, und der Mutterschaftsurlaub dauert ein Jahr.
Bezos hat mit seinem «zielgerichteten Darwinismus» Erfolg. Amazon hat soeben Walmart als grössten Retailer der Welt abgelöst und will weiter expandieren. Jeff Bezos sieht auch keinen Anlass, etwas zu verändern. Die «New York Times» habe ein Porträt eines seelenlosen und dystopischen Arbeitsplatzes gezeichnet, beklagte er sich an einer Pressekonferenz und gegenüber den Mitarbeitern erklärte er: «Ich kann Amazon in diesem Artikel nicht wiedererkennen, und ich hoffe, euch geht es genauso.»