San Francisco und Kalifornien waren lange Inbegriff eines besseren und friedlicheren Lebens. Die Hippies der 68er Zeit verteilten Blumen, kämpften gegen den Vietnamkrieg und für die sexuelle Befreiung. Esoterische Gruppen jeder Art wärmten sich in der Sonne Kaliforniens, Künstler und Manager machten sich auf den Weg, um ihr Glück zu finden.
Auch die Sharing Economy stammt aus dem Silicon Valley bei San Francisco. Sie weckt deshalb Assoziationen an eine Kuschelwirtschaft, an eine Wirtschaft, in der geteilt und nicht gerafft wird, wo selbst die Stars in Jeans und Turnschuhen unterwegs und alle cool drauf sind. Steve Jobs war schliesslich auch eine Art Hippie, der in Indien zu sich gefunden und sich strikt vegan ernährt hat.
Nichts könnte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein. Mit Gemeinwohlwirtschaft haben Google, Facebook & Co. nichts am Hut. Sie verstehen sich als die neuen Masters of the Universe.
Larry Page, Sergey Brin und Mark Zuckerberg & Co. glauben an die Eigenkapitalrendite und nicht an die freie Liebe; und Uber-Chef Travis Kalanick, der neue Superstar der Szene, beschwört nicht eine heile Gemeinschaft, sondern huldigt einem libertären Ultra-Kapitalismus.
Um die Sharing Economy und ihre Philosophie zu verstehen, ist es hilfreich, wenn man sich mit den Ideen der folgenden Persönlichkeiten vertraut macht:
Ayn Rand
1957 ist der Roman «Atlas Shrugged» der Schriftstellerin Ayn Rand erschienen. Von der etablierten Literaturwissenschaft wurde er entweder verspottet oder ignoriert. Trotzdem gehört «Atlas Shrugged» heute noch zu den 30 meistbestellten Titeln beim Onlineanbieter Amazon.com.
Die in die USA geflohene, jüdische Apothekerstocher aus St. Petersburg hat darin eine einzige – wenn auch etwas langatmige – Lobeshymne auf den puren Kapitalismus verfasst. Heldenhafte Unternehmer müssen sich gegen faule Gewerkschafter, schmierige Journalisten und korrupte Politiker durchsetzen. Alles, was nach Staat riecht, ist dekadent und führt ins Elend. Die Unternehmer flüchten sich schliesslich in ein verlassenes Tal und gründen dort eine neue Gesellschaft.
Ayn Rand hat im Silicon Valley eine grosse Fangemeinschaft. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gehört dazu, ebenso der erwähnte Uber-Chef Kalanick.
Dieser umgibt sich mit Jungstars der libertären Szene wie beispielsweise Marco Rubio, republikanischer Senator aus Florida. Zu Kalanicks Freunden gehört auch Grover Norquist, der militante und politisch sehr einflussreiche Steueraktivist. Er will den Staat so klein schrumpfen, dass man ihn in der Badewanne ertränken kann. Kürzlich twitterte Norquist: «Heute gibt es zwei Parteien in Amerika. Die eine ist Uber, die andere die Steuerbehörde.»
There are two political parties/movements in America.
One is with UBER, the other is with the taxi commission. Choose.
— Grover Norquist (@GroverNorquist) June 25, 2014
Die Kernidee von «Atlas Shrugged», eine neue Gesellschaft zu gründen, ist im Silicon Valley ebenfalls populär. Der Ökonom und erfolgreiche Online-Unternehmer Paul Romer etwa will in Entwicklungsländern so genannte Charter Cities gründen, in denen Einheimische wohnen und arbeiten können, wo sie aber nichts zu sagen haben.
Petri Friedman, Enkel des legendären Ökonomen Milton Friedman, will gar eine Insel für Superreiche bauen, die jenseits aller Landesgrenzen angesiedelt ist und wo deshalb keine Steuern erhoben werden dürfen.
Ray Kurzweil
Ray Kurzweil, 66, ist der Übervater der Szene der künstlichen Intelligenz. Als 15-Jähriger schrieb er sein erstes Computerprogramm. Wenig später stellte er in einer TV-Show seinen selbstgebastelten Musik-Computer vor.
Er studierte am renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT), entwickelte den ersten Synthesizer für Stevie Wonder, baute ein Lesegerät für Blinde und sammelte Wissenschaftspreise wie Roger Federer Tennis-Trophäen. Kurzweil besitzt nicht weniger als 15 Ehrendoktorate, und er hat verschiedene Bestseller über die künstliche Intelligenz veröffentlicht.
In Europa ist Kurzweil kaum bekannt, in der amerikanischen IT-Szene hingegen hat er den Status eines Halbgottes.
Sein Einfluss kann nicht überschätzt werden. Er ist Sonderberater von Google, seine Theorie der Singularity, der bevorstehenden Verschmelzung von biologischer und künstlicher Intelligenz, ist im Silicon Valley nahezu ein Dogma. Kurzweil verspricht sich davon nicht weniger als die Unsterblichkeit und die Eroberung des Universums.
Peter Thiel
Peter Thiel ist der Kopf der so genannten Pay-Pal-Mafia, den Gründern des gleichnamigen Online-Bezahldienstes. Dazu gehören unter anderem Tesla-Gründer Elon Musk und der LinkedIn-Gründer Reid Hoffman. Thiel ist einer der schillerndsten Figuren der IT-Szene und so etwas wie ihr Vordenker. Er gehörte zu den ersten Investoren von Facebook.
Geboren wurde Peter Thiel 1967 in Frankfurt. Aufgewachsen ist er teilweise in Namibia. Später wanderten seine Eltern in die Vereinigten Staaten aus. Er hat an der Stanford University Philosophie und Rechtswissenschaft studiert.
Wie Kurzweil glaubt auch Thiel an die Singularity-Theorie. Er ist einer der Gründer und Spender der 2006 gegründeten Singulartiy Universität und er gehört zu den Mäzenen von Dr. Aubrey de Grey, dem bekanntesten Vertreter der Anti-Aging Bewegung.
Thiel betätigt sich auch politisch. Lange hat er den ultralibertären Republikaner Ron Paul finanziert, 2012 machte er Mitt Romney im Valley salonfähig. Auch die ehemalige Chefin von eBay, Meg Whitman, konnte auf die Hilfe von Thiel zählen, als sie sich um das Amt der Gouverneurin von Kalifornien bewarb. Thiel soll Mitglied der sagenumworbenen Bilderberg-Gruppe sein. Er ist sehr religiös und homosexuell.
Sein Weltbild schildert Thiel in George Packers Buch «Die Abwicklung» wie folgt: «Wir haben eine ziemlich kaputte reale Welt, in der alles immer schwieriger wird, und die Politik spielt verrückt, und es ist beinahe unmöglich, gute Leute in die wichtigsten Ämter zu wählen, das ganze System funktioniert nicht. Und dann haben wir noch die virtuelle Welt, wo es überhaupt kein Zeug gibt, nichts, nur Nullen und Einsen im Computer, die man manipulieren und umprogrammieren kann, der Computer tut am Ende genau das, was du von ihm erwartest. Vielleicht ist das im Moment die einzige Stelle, an der man ansetzen kann, wenn man dem Land helfen möchte.»
Die Mission
«Fitter, glücklicher und produktiver», lautet das Credo der IT-Szene. Immer leistungsfähigere Computer und immer intelligentere Software werden alle Probleme der Welt lösen: Die Politik wird transparent und Korruption unmöglich, Verbrechen werden aufgeklärt, bevor sie begangen werden, Konflikte werden zu Spielen, in denen alle am Schluss gewinnen. Smarte Sensoren verhindern Pannen. Kurz: Für alles – von der grassierenden Fettsucht über verstopfte Strassen bis hin zur Klimaerwärmung – wird es eine Lösung geben.
In der Sharing Economy haben nicht mündige Bürgerinnen und Bürger das Sagen, sondern eine Elite. Unterstützt von intelligenter Technik sorgt sie dafür, dass die Menschen den Planeten Erde nicht zerstören.
Die Vertreter dieser Elite sind alle ein bisschen seltsam. Wie erwähnt, versucht Peter Thiel gleichzeitig Religion, Homosexualität und Avantgarde unter einen Hut zu bringen. Ray Kurzweil will ernsthaft den Tod überlisten und hat zu diesem Zweck zusammen mit dem Arzt Terry Grossman ein Diätbuch verfasst. Zeitweise hat der Altersdiabetes gefährdete Kurzweil 250 Pillen geschluckt – täglich.
Diäten und Anti-Aging-Kuren sind im Silicon Valley weit verbreitet. Steve Jobs hat sich zeitweise nur von Karotten ernährt. Ob Veganismus oder das Gegenteil, die fleischbetonte Steinzeit-Diät, alles findet Anhänger.
Auch der Wunsch nach einem ewigen Leben ist weit verbreitet. So hat Google vor Jahresfrist die Tochterfirma Calico vorgestellt, ein Biotech-Unternehmen. Es will Mittel und Wege finden, das Alter zu überwinden und so den Weg zum ewigen Leben entdecken. Wojcicki Brin, die getrennt von ihrem Ehemann lebende Frau von Sergey Brin, ist Biochemikerin und ebenfalls auf das Thema Anti-Aging spezialisiert.
Die Kritiker
Der Machbarkeitswahn der IT-Elite stösst selbst in den eigenen Reihen auf Kritik. In seinem Buch «To Save Everything Click Here» rechnet Evgeny Morozov – ein anerkannter Fachmann – mit den Techno-Geeks ab. «Zu versuchen, die menschlichen Bedingungen zu verbessern, in dem man davon ausgeht, dass Menschen wie Roboter funktionieren, wird uns nicht weit bringen», stellt Morozov fest.
Noch härter geht Jaron Lanier mit Kurzweil & Co. ins Gericht. Lanier ist selbst ein Pionier der Virtuellen Realität-Szene, hat mehrere Unternehmen gegründet, ist Berater von Microsoft und hat das Drehbuch zu Spielbergs Kultfilm «Minority Report» verfasst.
In seinem Buch «You are not a Gadget» bezeichnet Lanier Kurzweil und die Anhänger der Singularity-These als «Cyber-Totalitäre» und «digitale Maoisten». «Ideen, die einst in der obskuren Welt der künstlichen Intelligenz verstaut waren, sind mainstream geworden», stellt Lanier fest. Dabei werde davon ausgegangen, dass die ganze Welt ein riesiges Informationssystem sei und, dass «das Internet als Ganzes bald intelligenter sein wird als das menschliche Gehirn».
Die Vertreter dieser Philosophie würden davon ausgehen, dass Computer die Menschen bald besser verstehen würden als die Menschen selbst. «Was aber», so Lanier, «wenn die Information keine Seele hat? Was, wenn es sich bloss um ein Artefakt der menschlichen Gedanken handelt? Was, wenn nur die Menschen real sind, aber nicht die Information?»
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)