Für die Babyboom-Generation gehörte Friedrich Dürrenmatts Komödie «Romulus der Grosse» in der Mittelschule einst zur Pflichtlektüre. Der Inhalt des Stücks ist schnell erzählt: Der letzte Kaiser des weströmischen Reiches lebt auf seinem Landsitz und geniesst das Leben. Er hat die Nase gestrichen voll vom einst mächtigen Imperium und denkt nicht im Traum daran, es gegen die heranrückenden Germanen zu verteidigen, sondern will es friedlich untergehen lassen und einer neuen Weltordnung Platz machen.
Dürrenmatt hat seinen «Romulus» unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges geschrieben. Verständlich daher, dass die Botschaft lautet: Der Aufbau eines Imperiums – oder damals eines tausendjährigen Reiches – ist mit Grausamkeit und Elend verbunden und lohnt sich nicht. Wenn Menschen überhaupt so etwas wie Glück finden, dann liegt es in der Periode des Zerfalls.
Dieser Gedanke ist zwar sympathisch, aber leider falsch. Die Geschichte lehrt uns das Gegenteil: Imperien gehen nicht mit einem Seufzer unter, sondern mit einem gewaltigen Knall. Sie werden im Niedergang nicht tolerant und dekadent, sondern bigott und bösartig. Das zeigen die jüngsten Vorgänge in Russland und mit Abstrichen auch in den Vereinigten Staaten.
Dabei schien die UdSSR zunächst äusserst friedlich auseinanderzubrechen. Michail Gorbatschow leitete ein Reformprogramm namens Perestroika ein, und ehe wir uns versahen, war die Mauer in Berlin gefallen, Deutschland wiedervereinigt und die ehemalige Supermacht Russland zur grössten Tankstelle der Welt mutiert. Ausser einem kurzen Zwischenspiel der alten Kreml-Elite regte sich kaum Widerstand, und einen versuchten Marionetten-Putsch schlug Jelzin fast eigenhändig nieder.
Das Gebaren von Wladimir Putin spült nun mit einer zeitlichen Verzögerung die hässliche Seite des Zerfalls des Sowjetimperiums wieder an die Oberfläche. Es geht dabei nicht um die Annexion der Krim. Dafür gibt es berechtigte Gründe und das Problem hätte sich durchaus auch in Einklang mit dem Völkerrecht lösen lassen. Es ist die Art und Weise, wie Putin agiert. Er will ganz offensichtlich Rache für ein gedemütigtes Russland.
Der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael A. McFaul, schreibt in der «New York Times»: «Der schrille Anti-Amerikanismus der russischen Führer und das Echo darauf in den vom Staat kontrollierten Medien hat mit der Annexion der Krim einen fanatischen Höhepunkt erreicht. Putin hat uns klar gemacht, dass er die Konfrontation mit dem Westen sucht, dass er sich nicht mehr länger durch das Völkerrecht behindert fühlt und nicht davor zurückschreckt, russische Macht zu demonstrieren, auch wenn sie im Widerspruch zur internationalen Gemeinschaft steht.»
Der an die Sowjet-Propaganda erinnernde Anti-Amerikanismus Putins löst nicht nur an der Heimatfront Begeisterung aus. Auch den amerikanischen Hardlinern kommt er sehr gelegen. Auch sie leiden darunter, dass die USA nicht mehr die unangefochtene Supermacht ist, die eigenmächtig den anderen Nationen ihren Willen aufzwingen kann.
Die Tea Party ist ebenfalls eine Reaktion auf den relativen Niedergang der Supermacht USA, und wer gelegentlich den Talkingheads am TV-Sender Foxnews zuhört, der weiss, dass die amerikanische Rechte – was schrillen Nationalismus betrifft – keinen Vergleich mit Putin & Co. zu scheuen braucht.
Deshalb ist die Krimkrise mehr als eine vorübergehende Störung der Beziehungen zwischen Ost und West, die sich bald wieder legen wird. Sie ist eine Zäsur und stellt das Ende einer Ära dar, in der es schien, als ob internationale Konflikte zivilisiert im Rahmen des Völkerrechtes und mit Hilfe der internationalen Institutionen gelöst werden können.
Der Traum einer multipolaren G20-Welt ist fürs erste geplatzt. «Unsere neue Ära ist gekennzeichnet von ideologischen Kämpfen, einer Wiederkehr des Nationalismus und von territorialen Eroberungen» stellt McFaul fest. «Es ist eine Ära, die in vielfacher Hinsicht an die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert.»
Auch das gesellschaftspolitische Klima erinnert an längst überwundene Zeiten. Von einer dekadenten Toleranz, von der Dürrenmatt träumte, kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die Intoleranz kehrt zurück und mit ihr die klassischen Sündenböcke der Konservativen. Russland hat zu einer widerlichen Hatz auf Homosexuelle aufgerufen. Auch der Tea Party ist der Kampf gegen Homo-Ehe fast so wichtig wie der Kampf gegen Obamacare.
Ob orthodoxe Pope oder evangelische Fundamentalisten, in beiden ehemaligen Supermächten rücken Kirche und Staat näher zusammen, verbunden mit irrationalen Auswüchsen wie das Leugnen der Evolution und dem Verbot von Abtreibungen.
Putin hat den Schlammassel, den Jelzin und die erste Oligarchen-Generation hinterliessen, erfolgreich aufgeräumt. Eine Weile schien es so, als ob er – wie der ehemalige US-Präsident George W. Bush einst erklärte – ein Mann ist, «mit dem man Geschäfte machen kann». Stattdessen führt er Russland in eine Ära, in der sich der Westen sich wieder auf die Politik des «containment» konzentriert. Will heissen: Russland mit Sanktionen so einzugrenzen, dass sich der Schaden in Grenzen hält.
Dieser Rückfall löst auch in den USA eine verhängnisvolle Dialektik aus. Die kalten Krieger haben wieder Oberwasser. Präsident Obama wird als Schwätzer verspottet und wenig schmeichelhaft mit dem Aktions-Macho Putin verglichen. Die Republikaner waren nach dem Debakel der Wahlen von 2012 und dem Flop mit dem Einfrieren des Staatsbudgets vernichtend geschlagen. Jetzt erleben sie ein Comeback. Bereits wird darüber spekuliert, ob sie bei dem kommenden Zwischenwahlen nicht nur im Abgeordnetenhaus über eine Mehrheit verfügen werden, sondern auch im Senat.
Zum Glück spricht noch niemand von einen Krieg, auch nicht von einem kalten. Aber warm anziehen müssen wir uns wahrscheinlich trotzdem – und zwar bald.
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