Eine Firma bietet Jungfräulichkeit «to go» an – wieso das bedenklich ist
Jungfräulichkeit «to go». Das verspricht die Firma Virginiacare mit Hauptsitz in Baden-Württemberg im Internet. Bestellen kann man ihre künstlichen Hymen – das sogenannte Jungfernhäutchen – auch in die Schweiz. Wer das Jungfräulichkeits-«Komplettpaket» kauft, erhält eine Membran, die das Häutchen imitieren soll, Blutpillen und ein Vagina-Straffungsgel obendrauf. Kostenpunkt: 142 Franken.
So funktioniert es: Frauen, die unter Druck stehen, ihre Jungfräulichkeit zu beweisen, sollen sich laut dem Hersteller etwa zwei Stunden vor dem Geschlechtsverkehr die künstliche Membran oder die Kapsel mit Blutimitat vaginal einführen. Durch die Körperwärme löse sich die Kapsel auf und beginne, «das spezielle Fluid freizusetzen, das eine realistische Blutung simuliert». So heisst es auf der Website von Virginiacare. Das Unternehmen verspricht: «Du kannst jetzt unbesorgt den Geschlechtsverkehr geniessen, da die Simulation glaubwürdig und natürlich wirkt.»
Das Jungfräulichkeits-Kit wird von vielen Käuferinnen im Online-Shop als Rettung in einer ausweglosen Situation beschrieben. Die Produkte haben fast ausschliesslich 5-Sterne-Bewertungen. Ob die Rückmeldungen – darunter rund 50 aus der Schweiz – echt sind, lässt sich nicht überprüfen. Dass es eine Nachfrage nach solchen Methoden gibt – und dass sie Betroffenen patriarchaler Gewalt helfen können –, zeigt das Beispiel von Esra, die eigentlich anders heisst. Sie sagt gegenüber der Online-Plattform Refinery29:
Virginiacare wirbt mit Selbstbestimmung, Intimgesundheit und innerem Wohlbefinden – und erntet viel Kritik. So wirft ein Gynäkologe aus Deutschland dem Unternehmen vor, aus der Angst von Frauen Profit zu schlagen. watson hat das Unternehmen mit dieser Kritik konfrontiert. Bis Redaktionsschluss blieb die Anfrage jedoch unbeantwortet.
Unklar ist auch, ob die vaginal einzuführenden Kapseln und Membranen gesundheitlich unbedenklich sind.
Fachstelle Zwangsheirat ist skeptisch
Dass Produkte wie das Jungfernhäutchen «to go» nichts mit Selbstbestimmung und Wohlbefinden zu tun haben, weiss Anu Sivaganesan von der schweizweit tätigen Fachstelle Zwangsheirat: «Für uns ist klar, dass Unternehmen, die solche Produkte anbieten, den Zwang zur Jungfräulichkeit zementieren. Sie benutzen den Mythos der Unschuld, um Geld daraus zu machen. Dabei geht es immer um die Unterdrückung und Kontrolle der weiblichen Sexualität.» Es sei bedenklich, dass in der Not von Frauen eine Marktlücke entdeckt worden sei. Denn:
Entgegen gängigem Glauben ist das Hymen viel mehr ein elastischer Schleimhautsaum als eine Haut. Zudem sieht er von Frau zu Frau unterschiedlich aus: Bei manchen ist es ein breiter Gewebesaum, bei anderen nur ein feiner Rand. Auch dessen Form variiert stark. Die grossen Unterschiede führen dazu, dass längst nicht alle Frauen beim ersten Sex bluten. Laut dem Universitätskinderspital Zürich kommt es nur bei rund 30 Prozent der Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr zu einer Blutung, weil das Hymen reisst.
Auch der Gynäkologe und Generalsekretär der Gesellschaft für Gynäkologie Schweiz, Thomas Eggimann, sieht Fake-Hymen und Blutkapseln, wie sie Virginiacare vertreibt, kritisch: «Die Geschichte vom Blut ist eine uralte. Längst nicht alle Mädchen und jungen Frauen bluten bei der Defloration. Und doch wird in gewissen kulturellen Kreisen noch immer erwartet, dass am Morgen nach der Hochzeitsnacht ein blutbeflecktes Leintuch als Beweis am Fenster hängt. Für viele junge Frauen bedeutet dieser Druck nach Jungfräulichkeit enormen Stress, in manchen Fällen sogar Lebensgefahr.»
Steigende Nachfrage in der Schweiz
Das Geschäft mit dem Jungfernhäutchen ist nichts Neues. In der Schweiz bieten zahlreiche Privatkliniken Operationen an, in denen das Hymen von Frauen wiederhergestellt wird.
Wie gross die Nachfrage nach solchen Operationen hierzulande ist, ist schwer einzuschätzen. Seit 2011 gibt es keine Studie mehr dazu – damals wurden schweizweit jährlich rund 60 Hymenrekonstruktionen durchgeführt. 2020 legte Dr. Igor Martinek in einem Beitrag von SRF nahe, dass die Nachfrage steigt. Schweizer Kliniken seien unter den Frauen wegen ihrer Diskretion besonders beliebt. So reisten zwei Drittel der Patientinnen aus dem Ausland an.
Täter-Opfer-Rolle getauscht
Nach Ansicht von Anu Sivaganesan von der Fachstelle Zwangsheirat Zürich sollte es Produkte wie das Jungfräulichkeits-Kit und Jungfernhäutchen-OPs nicht geben müssen. Die Methoden böten zwar in einzelnen Fällen kurzfristige Scheinlösungen für Menschen, die akut in Gefahr seien. Doch sie seien reine Symptombekämpfung.
Um den Frauen zu helfen, die unter dem Druck stehen, ihre Jungfräulichkeit zu beweisen, brauche es mehr Aufklärung. Wenn eine Klinik eine Anfrage für eine Hymenrekonstruktions-Operation erhalte, sollte sie Beratungsangebote anbieten müssen, findet Sivaganesan. Denn die psychischen Folgen dieses Drucks auf die Frauen seien gravierend:
Sivaganesan berät regelmässig Frauen, die ihre Jungfräulichkeit beweisen sollen. Daher weiss sie, dass die Betroffenen bereits in der Kindheit und Jugend lernen, dass ihre Sexualität nicht ihnen gehört. Ihr Körper sei ein Ort der Verbote: keine Tampons benützen, nicht mit offenen Beinen ins Wasser springen, keine Jungs treffen. Weil es das Jungfernhäutchen zerstören könnte. Das führt laut Sivaganesan zu enormem Druck, dem Ideal der jungfräulichen Braut zu entsprechen.
Gesellschaftlich müsse man langfristige Lösungen finden. Entscheidend sei der Aufklärungsunterricht an Schulen, denn häufig kämen betroffene Frauen aus Haushalten, in denen Sexualität ohnehin tabuisiert sei.
Sivaganesan hält fest: «Jungfräulichkeit kann man nicht beweisen, und Frauen sollten nicht mit einem solchen Irrglauben unterdrückt werden. Ihre sexuellen Rechte sind zu respektieren.»
