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Jungfräulichkeit to go: Virginiacare verkauft Fake-Jungfernhäutchen

Teaserbild Jungfernhäutchen, Blut auf Bettlaken, Firma VirginiaCare verkauft Fake-Hymen
Der Blutfleck auf dem Bettlaken nach der Hochzeitsnacht wird noch immer von vielen als Beweis für die Jungfräulichkeit der Frau angesehen.Bild: shutterstock / watson

Eine Firma bietet Jungfräulichkeit «to go» an – wieso das bedenklich ist

Die deutsche Firma Virginiacare vertreibt online Fake-Jungfernhäutchen. Ihre Produkte würden für viele Frauen eine Rettung darstellen, ist die Firma überzeugt. Die Fachstelle für Zwangsheirat schlägt hingegen Alarm.
23.08.2025, 14:4701.09.2025, 21:38

Jungfräulichkeit «to go». Das verspricht die Firma Virginiacare mit Hauptsitz in Baden-Württemberg im Internet. Bestellen kann man ihre künstlichen Hymen – das sogenannte Jungfernhäutchen – auch in die Schweiz. Wer das Jungfräulichkeits-«Komplettpaket» kauft, erhält eine Membran, die das Häutchen imitieren soll, Blutpillen und ein Vagina-Straffungsgel obendrauf. Kostenpunkt: 142 Franken.

So funktioniert es: Frauen, die unter Druck stehen, ihre Jungfräulichkeit zu beweisen, sollen sich laut dem Hersteller etwa zwei Stunden vor dem Geschlechtsverkehr die künstliche Membran oder die Kapsel mit Blutimitat vaginal einführen. Durch die Körperwärme löse sich die Kapsel auf und beginne, «das spezielle Fluid freizusetzen, das eine realistische Blutung simuliert». So heisst es auf der Website von Virginiacare. Das Unternehmen verspricht: «Du kannst jetzt unbesorgt den Geschlechtsverkehr geniessen, da die Simulation glaubwürdig und natürlich wirkt.»

Kundenbewertungen auf der Website des Herstellers.
Kundenbewertungen auf der Website des Herstellers.Bild: Screenshot virginia-care.de

Das Jungfräulichkeits-Kit wird von vielen Käuferinnen im Online-Shop als Rettung in einer ausweglosen Situation beschrieben. Die Produkte haben fast ausschliesslich 5-Sterne-Bewertungen. Ob die Rückmeldungen – darunter rund 50 aus der Schweiz – echt sind, lässt sich nicht überprüfen. Dass es eine Nachfrage nach solchen Methoden gibt – und dass sie Betroffenen patriarchaler Gewalt helfen können –, zeigt das Beispiel von Esra, die eigentlich anders heisst. Sie sagt gegenüber der Online-Plattform Refinery29:

«Als ich meinen Freund kennengelernt habe, hätte ich nie gedacht, dass er so streng ist. Die ersten Wochen war er locker, bis er dann meinte, dass seine Familie den Beweis haben will, dass er eine Jungfrau heiratet. Einmal sagte er sogar, dass er mich und sich umbringen würde, wenn ich keine Jungfrau wäre. Ich wollte nicht herausfinden, ob er das ernst meint …»
refinery29.com

Virginiacare wirbt mit Selbstbestimmung, Intimgesundheit und innerem Wohlbefinden – und erntet viel Kritik. So wirft ein Gynäkologe aus Deutschland dem Unternehmen vor, aus der Angst von Frauen Profit zu schlagen. watson hat das Unternehmen mit dieser Kritik konfrontiert. Bis Redaktionsschluss blieb die Anfrage jedoch unbeantwortet.

Unklar ist auch, ob die vaginal einzuführenden Kapseln und Membranen gesundheitlich unbedenklich sind.

Fachstelle Zwangsheirat ist skeptisch

Dass Produkte wie das Jungfernhäutchen «to go» nichts mit Selbstbestimmung und Wohlbefinden zu tun haben, weiss Anu Sivaganesan von der schweizweit tätigen Fachstelle Zwangsheirat: «Für uns ist klar, dass Unternehmen, die solche Produkte anbieten, den Zwang zur Jungfräulichkeit zementieren. Sie benutzen den Mythos der Unschuld, um Geld daraus zu machen. Dabei geht es immer um die Unterdrückung und Kontrolle der weiblichen Sexualität.» Es sei bedenklich, dass in der Not von Frauen eine Marktlücke entdeckt worden sei. Denn:

«Die Vorstellung, dass das Hymen beim ersten Geschlechtsverkehr reisst, ist, wissenschaftlich gesehen, Humbug.»

Entgegen gängigem Glauben ist das Hymen viel mehr ein elastischer Schleimhautsaum als eine Haut. Zudem sieht er von Frau zu Frau unterschiedlich aus: Bei manchen ist es ein breiter Gewebesaum, bei anderen nur ein feiner Rand. Auch dessen Form variiert stark. Die grossen Unterschiede führen dazu, dass längst nicht alle Frauen beim ersten Sex bluten. Laut dem Universitätskinderspital Zürich kommt es nur bei rund 30 Prozent der Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr zu einer Blutung, weil das Hymen reisst.

Auch der Gynäkologe und Generalsekretär der Gesellschaft für Gynäkologie Schweiz, Thomas Eggimann, sieht Fake-Hymen und Blutkapseln, wie sie Virginiacare vertreibt, kritisch: «Die Geschichte vom Blut ist eine uralte. Längst nicht alle Mädchen und jungen Frauen bluten bei der Defloration. Und doch wird in gewissen kulturellen Kreisen noch immer erwartet, dass am Morgen nach der Hochzeitsnacht ein blutbeflecktes Leintuch als Beweis am Fenster hängt. Für viele junge Frauen bedeutet dieser Druck nach Jungfräulichkeit enormen Stress, in manchen Fällen sogar Lebensgefahr.»

Steigende Nachfrage in der Schweiz

Das Geschäft mit dem Jungfernhäutchen ist nichts Neues. In der Schweiz bieten zahlreiche Privatkliniken Operationen an, in denen das Hymen von Frauen wiederhergestellt wird.

Wie gross die Nachfrage nach solchen Operationen hierzulande ist, ist schwer einzuschätzen. Seit 2011 gibt es keine Studie mehr dazu – damals wurden schweizweit jährlich rund 60 Hymenrekonstruktionen durchgeführt. 2020 legte Dr. Igor Martinek in einem Beitrag von SRF nahe, dass die Nachfrage steigt. Schweizer Kliniken seien unter den Frauen wegen ihrer Diskretion besonders beliebt. So reisten zwei Drittel der Patientinnen aus dem Ausland an.

Täter-Opfer-Rolle getauscht

Nach Ansicht von Anu Sivaganesan von der Fachstelle Zwangsheirat Zürich sollte es Produkte wie das Jungfräulichkeits-Kit und Jungfernhäutchen-OPs nicht geben müssen. Die Methoden böten zwar in einzelnen Fällen kurzfristige Scheinlösungen für Menschen, die akut in Gefahr seien. Doch sie seien reine Symptombekämpfung.

Um den Frauen zu helfen, die unter dem Druck stehen, ihre Jungfräulichkeit zu beweisen, brauche es mehr Aufklärung. Wenn eine Klinik eine Anfrage für eine Hymenrekonstruktions-Operation erhalte, sollte sie Beratungsangebote anbieten müssen, findet Sivaganesan. Denn die psychischen Folgen dieses Drucks auf die Frauen seien gravierend:

«Mit solchen Methoden wird die Täter-Opfer-Rolle getauscht. Die Frau fühlt sich schlecht, weil sie denkt, sie täuscht ihren Mann oder die Familie. Aber eigentlich sind diejenigen, die solche Forderungen stellen, die Täter.»
Anu Sivaganesan, Dr. iur.
Präsidium
info@zwangsheirat.ch
Anu Sivaganesan ist Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat.bild: christian schnur

Sivaganesan berät regelmässig Frauen, die ihre Jungfräulichkeit beweisen sollen. Daher weiss sie, dass die Betroffenen bereits in der Kindheit und Jugend lernen, dass ihre Sexualität nicht ihnen gehört. Ihr Körper sei ein Ort der Verbote: keine Tampons benützen, nicht mit offenen Beinen ins Wasser springen, keine Jungs treffen. Weil es das Jungfernhäutchen zerstören könnte. Das führt laut Sivaganesan zu enormem Druck, dem Ideal der jungfräulichen Braut zu entsprechen.

Gesellschaftlich müsse man langfristige Lösungen finden. Entscheidend sei der Aufklärungsunterricht an Schulen, denn häufig kämen betroffene Frauen aus Haushalten, in denen Sexualität ohnehin tabuisiert sei.

Sivaganesan hält fest: «Jungfräulichkeit kann man nicht beweisen, und Frauen sollten nicht mit einem solchen Irrglauben unterdrückt werden. Ihre sexuellen Rechte sind zu respektieren.»

Video: watson/Emanuella Kälin
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168 Kommentare
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Amateurschreiber
23.08.2025 15:31registriert August 2018
Tut mir Leid, wenn ich die Empörung der Firma gegenüber nicht teile!
Ich habe volles Verständnis dafür, wenn eine Junge Frau sich für diesen kleinen "Beschiss" entscheidet, statt dass sie ganz allein aufsteht und einen Klassenkampf gegen (vermutlich) beide Familien führt.
- Es ist gut, dass es solche Produkte gibt!
- Es ist schlimm, dass es solche Produkte braucht!
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Sensei
23.08.2025 15:39registriert Mai 2015
Und dann fragt man sich ernsthaft wieso es so viele "Femizide" gibt. Esra und eigentlich alle in der Kundenkartei sind höchstgradig gefährdet.
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outdoorch
23.08.2025 15:32registriert Dezember 2017
«Mit solchen Methoden wird die Täter-Opfer-Rolle getauscht. Die Frau fühlt sich schlecht, weil sie denkt, sie täuscht seinen Mann oder die Familie. Aber eigentlich sind diejenigen, die solche Forderungen stellen, die Täter.»

Damit ist eigentlich alles gesagt.
Absurdes und moralisch zutiefst fragwürdiges Produkt.
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