Wissen
Forschung

Hannibal und Co: Welche Film-Psychopathen sind realistisch?

Reality-Check: Vor welchen Film-Psychopathen müssen wir uns tatsächlich fürchten? 

28.08.2016, 20:5607.02.2017, 09:35
Mehr «Wissen»

Psychopathen lachen nicht dieses wahnsinnige Lachen.

Animiertes GIFGIF abspielen
gif: giphy

Leider. Sie sind eher so wie Anton Chigurh in «No Country for Old Men» (2007), der Auftragsmörder, der so grandios von Javier Bardem verkörpert wird. Er ist ruhig. Er spaziert durch die Gegend und tötet Menschen. Mit seinem pneumatischen Bolzenschussgerät.

Animiertes GIFGIF abspielen
Niemand will ihm begegnen.gif: giphy

Das ist die Diagnose des forensischen Psychiaters Samuel Leistedt, der sich in drei Jahren 400 Filme angeschaut hat, um diejenigen mit realistischen Psycho-Charakteren herauszufiltern. Erst hat er sich der Geisterfiguren und denen mit Superkräften entledigt. Es blieben 126 Filme (1915–2010) übrig, die 105 männliche und 21 weibliche potentielle Psychopathen boten. Zusammen mit zehn Kollegen und Filmkritikern machten sie sich an die Auslese. 

Aus den Forschungsergebnissen ist eine Art Sozialgeschichte geworden: Wie hat sich die Sicht auf Psychopathen seit des frühen 20. Jahrhunderts verändert? Die Charaktere seien viel realistischer geworden, schreibt Leistedt im Journal of Forensic Sciences:

«Anstelle der kichernden Killer mit ihren Gesichtszuckungen haben einige der heutigen Porträts mehr Tiefe und geben einen überzeugenden Einblick in die menschliche Psyche.»
Samuel Leistedt
Psychopathie 
Psychopathen leiden unter einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung. Sie kennen keine Empathie, keine soziale Verantwortung. Sie haben kein Gewissen, sie handeln impulsiv, egoistisch, verantwortungslos, manipulativ. Neurologen haben nachgewiesen, dass verschiedene Hirnregionen von Psychopathen ein Struktur- und Funktionsdefizit aufweisen. Die Gehirnmasse in der präfrontalen und orbitofrontalen Grosshirnrinde ist reduziert. Daraus folgt das mangelhafte Normverständnis und das Fehlen von Schuldbewusstsein. 

Leistedt teilt die untersuchten Psychopathen-Figuren in vier Kategorien ein: 

  1. Klassischer/idiopathischer Psychopath: biologisch bedingt, Angstlevel tief, komplettes Fehlen von Empathie, Gewissen und Reue, äusserlich ruhig, aber zu extremer Grausamkeit fähig.
  2. Pseudopsychopath: weist gewisse Charakteristiken der Psychopathie auf, leidet aber vorrangig an anderen Störungen wie Psychosen, neigt zu gewalttätigen Ausbrüchen.
  3. Manipulativ: nutzt Charme, verführt und täuscht seine Opfer, die meisten Verbrechen beinhalten Betrug, versteckt sich geschickt unter seiner «Maske».
  4. Macho: schüchtert mittels Gewalt und Drohungen seine Opfer ein, wird schnell wütend, impulsiv und relativ einfach zu identifizieren, landet meist im Gefängnis wegen Drogendelikten oder Beleidigungen. 

Neben diesen vier Typen kann die Psychopathie primär (Ursache unbekannt) oder sekundär (Produkt der Umwelt) sein.

Wir wollen uns nun ansehen, welche der Film-Figuren realistisch gezeichnet wurden und welche nicht.

Übersicht der untersuchten Film-Psychopathen:

Die Einteilung aller untersuchten Charaktere in die vier Kategorien. Zwei weitere Übersichten findest du hier und hier.
Die Einteilung aller untersuchten Charaktere in die vier Kategorien. Zwei weitere Übersichten findest du hier und hier.bild: via quora

Die Top 3 der realistischen Film-Psychopathen:

1. Anton Chigurh in «No Country for Old Men» (2007)

Javier Bardem spielt den Psychopathen Anton Chigurh. 
Javier Bardem spielt den Psychopathen Anton Chigurh. bild: rogerebert

Kategorie: primärer, klassischer/idiopathischer Psychopath

Der König der klassischen Psychopathen ist der bereits erwähnte Auftragskiller Anton Chigurh aus dem Coen-Brothers-Film «No Country for Old Men». Er läuft mit seinem Bolzengewehr herum und schiesst Menschen in den Kopf. Manchmal erwürgt er sie auch. Und schläft danach ruhig. 

«Chigurh erinnert mich an zwei real existierende Berufskiller, die ich interviewt habe. Sie waren wie er: kalt, klug, ohne Schuldgefühle, ohne Angst, ohne Depression.»
Samuel Leistedt

2. Hans Beckert in «M» (1931)

Peter Lorre spielt den Kindermörder Hans Beckert in Fritz Langs «M».
Peter Lorre spielt den Kindermörder Hans Beckert in Fritz Langs «M».bild: criterion

Kategorie: sekundärer Pseudopsychopath mit Psychose

Eins der bedeutendsten Werke des deutschen Films ist «M». Die Geschichte des Kindermörders Hans Beckert ist gemäss der Studie ein bemerkenswert realistisches Porträt eines Kinderschänders. Es beschreibt einen nach aussen hin stinknormalen Mann. Der aber seinem Tötungszwang nachgehen muss. Heute würde man ihn wohl als Sexualstraftäter mit Psychose (zeitweiliger Verlust des Realitätsbezugs) bezeichnen, schreibt Leistedt.

«Immer muss ich durch Strassen gehen, und immer spür ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber. Manchmal ist mir, als ob ich selbst hinter mir herliefe. Ich will davon, vor mir selber davonlaufen, aber ich kann mir nicht entkommen. Wenn ich’s tue, dann weiss ich von nichts mehr … Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe, und lese. Das habe ich getan?»
Hans Beckert in «M» erinnert sich nicht an seine psychotischen Schübe, während denen er Kinder tötet.

Trailer zu «M»

3. Henry Lee Lucas in «Henry: Portrait of a Serial Killer» (1986)

Michael Rooker spielt den Serienmörder Henry.
Michael Rooker spielt den Serienmörder Henry.bild: heyuguys

Kategorie: primärer, klassischer/idiopathischer Psychopath

Der Low-Budget-Thriller «Henry: Portrait of a Serial Killer» von John McNaughton erzählt nüchtern und realistisch die Geschichte eines Serienmörders in Chicago, der stets nach neuen Methoden sucht, seine Opfer zu töten. Leistedt schreibt zu Henrys Figur: 

«Das Hauptmotiv ist das Chaos und die Instabilität im Leben eines Psychopathen: Henrys mangelnde Einsicht, die fehlende Empathie, seine emotionale Armut und das gut veranschaulichte Versagen, Pläne für die Zukunft zu machen.»
Samuel Leistedt

Trailer zu «Henry: Portrait of a Serial Killer»

Realistische Psychopathen-Charaktere gibt es also in der Filmgeschichte, aber laut Leistedt sind sie in der Minderheit.

Die Top 4 der unrealistischen Film-Psychopathen: 

1. Tommy Udo in «Kiss of Death» (1947)

Richard Widmark als Tommy Udo.
Richard Widmark als Tommy Udo.bild: hardboiledgirl

«Ein gutes Beispiel für ein frühes Porträt eines Irren (madman), dargestellt als Psychopath», schreibt Leistedt. Der Möchtegern-Psycho Tommy Udo mit dem verrückten, hohen Lachen. Gruselig, aber nicht realistisch, lautet das Urteil des forensischen Psychiaters.

Szene mit grusligem Kichern aus «Kiss of Death» 

2. Norman Bates in «Psycho» (1960)

Animiertes GIFGIF abspielen
Norman Bates, gespielt von Anthony Perkins.gif: giphy

Norman Bates – die Hauptfigur aus Hitchcocks «Psycho» – ist inspiriert vom echten Serienkiller Ed Gein, der 1957 festgenommen wurde. Ein unscheinbarer Gelegenheitsarbeiter mit deutschen Vorfahren aus einem Dorf in Wisconsin, der von seiner Mutter streng religiös erzogen wurde. Sie verteufelte die Sexualität, alle Frauen seien Huren, sagte sie. Als sie starb, begann Gein, Frauen zu ermorden. Er weidete ihre Leichen aus und behielt ihre Geschlechtsorgane und Nasen als Trophäen. Aus ihren Gesichtshäuten machte er Masken und die Schädel benutzte er als Schüsseln, um seine Hunde und Katzen zu füttern. Ein menschliches Herz wurde in einer Pfanne auf seinem Herd gefunden. 

Ed Gein is shown at the time of his arrest in 1957, after murdering a woman at the local hardware store in Plainfield, Wis., and taking her body home to hang in his shed. Gein, who was also a grave ro ...
Ed Gein, als er 1957 in Plainfield verhaftet wurde. Er starb mit 77 in der psychiatrischen Anstalt Central State Hospital.Bild: AP WISCONSIN STATE JOURNAL

«Psycho» habe mit Norman Gates ein Genre geschaffen, in dem Aussenseiter und Sonderlinge sexuell motivierte Morde begehen. Diese Charaktere seien dann als psychopathisch gedeutet worden, doch in Wahrheit sei Gein vielmehr psychotisch gewesen, verlor also den Bezug zur Realität. Eine Psychose sei grundsätzlich von der Psychopathie zu unterscheiden und gehe oft mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen einher, schreibt Leistedt. 

(Neuer) Trailer zu «Psycho»

3. Hannibal Lecter in «Silence of the Lambs» (1991)

Anthony Hopkins in der Rolle des Hannibal Lecter.
Anthony Hopkins in der Rolle des Hannibal Lecter.bild: houseofgeekery

Er ist fuchterregend, aber nicht von dieser Welt: Seine übermenschliche Intelligenz und Gerissenheit seien eigentlich für niemanden typisch, geschweige denn für einen Psychopathen, meint Leistedt. 

«Lecter ist das typische Beispiel für einen Elite-Psychopathen, der in den 80ern und 90ern populär wurde.»
Samuel Leistedt

Ruhig, kontrolliert, gewandt, charmant und enorm kultiviert wandelt er in eleganten Anzügen durch die Metropolen der Welt und bringt Menschen um, deren Organe und Gehirne er danach verspeist. «Diese Eigenschaften, speziell in dieser Kombination, sind bei echten Psychopathen gemeinhin nicht zu finden», urteilt Leistedt.

Trailer zu «Silence of the Lambs»

4. Patrick Bateman in «American Psycho» (2000)

Christian Bale spielt den amerikanischen Psychopathen.
Christian Bale spielt den amerikanischen Psychopathen.bild: phantastikon

Auch Patrick Bateman als «American Psycho» überzeugt Leistedt nicht. Es ziehe sich eine Art Evolutionslinie durch die Hollywood-Psychopathen: Angefangen bei den glupschäugigen Gangstern der 30er (Tony Camone im Original von «Scarface»), über die Slasher-Madmen der 70er und 80er (Jason in «Friday the 13th»), bis zum souveränen Serienmörder der 90er und 2000er, für die er stellvertretend «American Psycho» nennt. 

Trailer zu «American Psycho»

Die Mehrheit dieser filmischen Populär-Psychopathen transportieren nach Leistedt das Bild eines Universal-Bösewichts. Ein Archetypus, dessen Ausgestaltung je nach Entstehungszeit variiert. Einige moderne Portraits seien allerdings sehr nuanciert, Charaktere wie Anton Chigurh in «No Country for Old Men» seien so überzeugend, dass es für Psychiater lohnenswert sei, sich mit solchen Filmen zu beschäftigen, meint Leistedt.

(rof)

Passend dazu: Ein Film-Quiz! Erkennst du diese Klassiker?

Quiz
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
7 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Luca Brasi
28.08.2016 22:41registriert November 2015
Womit hat es Don Vito Corleone verdient mit einer solchen Respektlosigkeit behandelt zu werden?
Ein Macho? Dann könnte man ja die gesamte Corleone-Familie und alle Häupter der Familien als Psychopathen bezeichnen, nur weil sie ein patriarchales System bevorzugen. Don Vito ist alles andere als eine impulsive Persönlichkeit sondern wohlüberlegt. Selbst als sein wirklich zur Impulsivität neigender Sohn Santino hinterhältig ermordet wurde, verzichtete er auf Rache. Und der Don soll wegen Drogenvergehen im Gefängnis landen? Don Corleone war immer gegen das Drogenbusiness!
Das ist Rufmord! Vendetta!
72
Melden
Zum Kommentar
7
Michael Schüppach, der Emmenta­ler Wunderarzt
Mit seinen teilweise unkonventionellen Methoden machte sich Michael Schüppach im 18. Jahrhundert weit über die Grenzen des Emmentals hinaus einen Namen als Wunderarzt und Bergdoktor.

Dichter Johann Wolfgang von Goethe und sein Begleiter Herzog Carl August staunten nicht schlecht, als sie am 17. Oktober 1779 vor dem «… sehr merckwürdig und sehr dicken…» Michael, auch Michel genannt, Schüppach standen. Den vielgerühmten Wunderarzt hatten sie sich doch etwas anders vorgestellt. Dazu kam, dass der Mann an jenem Tag schlechte Laune hatte. Er litt unter Verdauungsproblemen und Marie Flückiger, seine Frau, war abwesend. Sie war es auch, die dem «Bergdoktor» zur Hand ging und als Übersetzerin fungierte, wenn Französisch sprechende Kranke kamen.

Zur Story