Clara Immerwahr hat es geschafft. Im Jahr 1900 verteidigt sie ihre Doktorarbeit über schwer lösliche Salze vor ihren Professoren der Universität Breslau – als erste Frau.
Clara gefallen die Worte, sie spricht sie aus vollem Herzen. Fräulein Immerwahr habe wacker und tapfer «wie ein Mann» ihre Dissertation verteidigt, lobt der Dekan und betont, dass jeder, unabhängig von Geschlecht, Konfession, Rasse oder Nationalität in der Wissenschaft willkommen sei. Aber mit der vor ihm stehenden «doctissima virgo» solle keine neue Ära anbrechen, in der Frauen es sich zur Gewohnheit machten, in die Universitäten zu strömen. Vielmehr sollten sie ihre schönste und heiligste Pflicht erfüllen – und der Hort der Familie sein.
Clara war sich die Seitenhiebe der Männer gewohnt. Und hätten diese sie geschwächt, so wäre sie diesen steinigen Weg niemals gegangen.
Sie wurde am 21. Juni 1870 nahe Breslau in Schlesien, mitten in die deutsche Reichsgründung hineingeboren. In eine Zeit, in der die Frauen begannen, für ihre Rechte zu kämpfen, und sich viele Männer vor dem «Weiberstaat» fürchteten. Nicht mehr lange, so prophezeite ein Redaktor der «Deutschen Tageszeitung» düster, und Männerknochen seien höchstens noch ein Relikt aus finsteren, barbarischen Zeiten, als die Chemie den Mann noch nicht ganz überflüssig machte:
Während die einen geneigt sind, den Frauen sehr viel zuzutrauen, halten sie andere von Natur aus für weniger begabt als die Männer. Wilhelm Ostwald, der 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, war der Ansicht, dass Frauen nicht für die wissenschaftliche Arbeit geeignet seien.
Clara war voller Bewunderung für diesen Mann. Sie hatte ihn ehrfürchtig in ihrer Doktorarbeit zitiert. Jetzt schäumte sie. Ohne Frauen, die den ganzen alltäglichen Kram von ihren Männern fernhielten, wären diese doch ausserstande, ihre grandiosen Erfindungen zu machen.
Clara war wissensdurstig, viel mehr als ihre Schwestern und dieser Durst war es dann auch, der ihr die Kraft und das Selbstbewusstsein verlieh, für ihre Bildung zu kämpfen. Erst besuchte sie die höhere Töchterschule, weil ihr das Gymnasium verwehrt blieb. Mit Privatstunden und Vorträgen des Volks- und Frauenbildungsvereins versuchte sie, ihre Lücken zu stopfen.
Noch bevor sie das Lehrerinnenseminar antrat, lernte sie Fritz Haber kennen. Diesen galanten jüdischen Mann, der seine Worte und Sprüche stets mit Bedacht wählte. In der Tanzstunde begegnet sie ihm zum ersten Mal – und verliebt sich sofort.
Fritz muss es genauso ergangen sein. Er will Clara auf der Stelle ehelichen. Doch erst soll er unterhaltungsfähig sein, meint Claras Vater, während Clara selbst über die ganze Institution Ehe nachgrübelt. Sie will nicht einfach der Putz eines Mann sein. Sie will etwas Eigenes sein.
Fritz geht nach Berlin, um Chemie zu studieren. Clara wird das über Umwege auch gelingen. Sie darf am Gymnasium als Gasthörerin Vorlesungen besuchen, legt dort die Freiwilligenprüfung als Externe ab. Sie spricht beim Rektor der Universität Breslau vor und bei den naturwissenschaftlichen Dozenten, um eine Sonderbewilligung zu bekommen. Die meisten Professoren sind von der strebsamen jungen Frau nicht gerade begeistert:
Ein anderer Dozent verwehrt Clara das Gespräch. Sie schneidet sich die Haare kurz. Doch im Grunde bleibt sie eine stille Rebellin und würgt die Beleidigungen runter wie zähes Fleisch. Zuhause schmeisst sie den Haushalt für ihren Vater und macht die Experimente nach, die in Jane Marcets «Unterhaltungen über die Chemie» stehen. Ein Buch, von einer Frau für nicht vorgebildete Frauen geschrieben. Fast hundert Jahre bevor Clara darin blättert.
Claras Freundin sitzt als einzige Frau in den Medizinvorlesungen der Universität Breslau. Einleitend richtet ihr Professor die folgenden Worte an seine Hörerschaft: «Ich kenne die Frauen, das hält keine durch!» Die Freundin antwortet ihm:
Als Richard Abegg Abteilungsvorsteher der philosophischen Fakultät wird, steht Claras Doktorarbeit nichts mehr im Wege. Er lässt sie frei im Labor arbeiten, fördert und füttert ihren Geist. Die Doktorwürde erhält sie mit der Auszeichnung magna cum laude.
Fritz Haber ist inzwischen ausserordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe – und er will mehr. Doch selbst als getaufter Jude, als verspotteter «Kunstarier», der nur aus Gründen der Universitätslaufbahn zum Christentum übergetreten sei – hat er es nicht leicht.
Juden tragen dieselben Lasten wie alle anderen Staatsbürger, aber die staatliche Verwaltungslaufbahn, hohe Richterämter und Offiziersposten bleiben ihnen versperrt. Eine langjährige Tradition in Deutschland.
Von Ehrgeiz getrieben und verbissen wälzt sich Fritz nun durch die Thermodynamik. Er will immer ein bisschen besser sein als seine Kollegen. Er muss es, um seinen «Makel» auszugleichen.
Auch Clara ist inzwischen keine Jüdin mehr. Ihr Vater besuchte niemals die Synagoge und überliess es seinen Kindern, wie sie es mit der Religion halten wollen. Clara konnte sich mit dem Judentum nicht identifizieren, am wenigsten mit Theodor Herzls zionistischen Ideen eines jüdischen Staates. Sie ist Deutsche – nicht mehr und nicht weniger.
Er wolle, dass Clara ihm mit ihrem Wissen beisteht, schreibt Fritz ihr in einem Brief. Und nicht nur das: Er habe sich zehn Jahre lang redlich bemüht, sie zu vergessen. Ohne Erfolg.
Clara lässt sich erbitten. Weil sie stolz ist, dass Fritz sie um Hilfe bittet. Ihre akademische Laufbahn als Frau würde sowieso als Laboratoriumsassistentin enden. Mit einem Chemiker an ihrer Seite, der ihr fachliches Wissen schätzt, wer weiss, was da noch für sie rausspringt?
1901 heiraten die beiden und Clara zieht zu Fritz nach Karlsruhe. Sie korrigiert seine polemisch tönenden Manuskripte, aus deren Zeilen sie die Profilierungssucht ihres Mannes mit Widerwillen herausliest.
Im selben Jahr wird das erste Mal der Nobelpreis verliehen. Alfred Nobel – der Erfinder des Dynamits – hatte auf Anraten der Friedenforscherin Bertha von Suttner in seinem Testament verfügt, Geld für «den edlen Kampf gegen die menschliche Dummheit und Grausamkeit» zu stiften.
Nobel hatte der Pazifistin entgegnet:
Er sollte sich täuschen.
Der kleine Hermann, den Clara ein Jahr später zur Welt bringt, ist ein kränklicher Junge – und auch Fritz verausgabt sich gesundheitlich immer mehr, so dass sie nun zwei pflegen muss.
Wie ein giftiges Gas schleicht sich in Fritzs Liebe zur Chemie auch der Erfolgsgedanke. Er hat es mit 37 zum ordentlichen Professor geschafft. Fortan widmet er sich der Ammoniaksynthese – der Grundlage für die grosstechnische Erzeugung von Stickstoffdüngern und Sprengstoffen. Damit kann man Menschen ernähren – oder vernichten.
Walther Nernst hatte gerade den dritten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert und die Vorzüge des höheren Drucks bei der Ammoniaksynthese beschrieben. Fritz Haber wird die Umsetzung der Idee gelingen.
Clara ist inzwischen im Arbeitsbereich ihres Mannes nicht mehr länger erwünscht. Repräsentieren soll sie, die Gattin des erfinderischen Professoren mimen. Weil ihr das nicht genügt, hält sie Vorträge über «die Chemie in der Küche» für den Frauenverein. Die Frauen sind begeistert, die meisten Männer belächeln sie. Der Haushalt ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Die Frau arbeitet darin, nicht darüber.
Fritz steht kurz vor dem Durchbruch, und Clara schaut mit Unbehagen zu, wie ihr Mann seine Forschungen nach den Bedürfnissen der Industrie ausrichtet, um Gewinne einzufahren. Der Chemiekonzern BASF hat bereits ein Patentrecht auf eine von Habers Erfindungen erworben, der Vertrag zur Ammoniaksynthese ist noch geheim.
Bis es endlich heisst:
Die Systhese ist nach 90 Stunden Experiment endlich gelungen. 1909 wird sie dem BASF-Vertreter Bosch vorgeführt, der die grosstechnische Umsetzung durchführen soll. Das Haber-Bosch-Verfahren wird die Agrarchemie revolutionieren.
Die Kollegen von Fritz glauben, Clara sei eine schwerlebige Frau, die mit ihrem amüsanten und geistreichen Gatten schlicht nicht mithalten kann. Doch es ist mehr. Sie spürt, wie er ihr unaufhaltsam entgleitet und zum reinen Macht- und Erfolgsmenschen wird – ohne einen Funken wissenschaftlichen Idealismus.
1911 wird Fritz Leiter des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem. Marie Curie erhält den Nobelpreis für Chemie und wird in den Zeitungen als «Radiumcirce» beschimpft, während Fritz und seine Kollegen vom Kaiser höchstpersönlich mit Titeln, Medaillen und Ehren überhäuft werden.
Fritz Haber hat es trotz «jüdischer Gene» zum Geheimrat gebracht und tritt nun pompös auf. Im zweiten Stock seines Instituts sitzt der ungekämmte Albert Einstein, der Wurstbrötchen in seine Aktentasche stopft und seine Bleistiftberechnungen auf Einwickelpapier macht.
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird die Ammoniaksynthese immer wichtiger. Durch die Seeblockade der Alliierten ist Deutschland vom chilenischen Salpeter abgeschnitten – dem Grundstoff für Kunstdünger, Schiesspulver und andere Explosivstoffe. Die Ammoniakfabriken müssen nun den Ausgleich schaffen. Fritz wird vom Kriegsministerium zum Chef der Zentralstelle für Chemie ernannt.
Im Krieg sollen plötzlich die Frauen gleichberechtigt neben den Männern stehen. Der Staat fordert die unmittelbare Mitarbeit aller. Frauenbewegungen, die sich gegen den Krieg wenden, werden als Vaterlandsverräterinnen verschrien. Doch die meisten Frauen sehen den Krieg als Chance, endlich ihre Fähigkeiten zu beweisen. Und sie gebären weiterhin Kinder, damit der Staat genug Soldaten hat.
Die Zeitungen melden nur Siege, und keiner spricht davon, wie sinnlos an der Front um wenige Kilometer Erde gekämpft wird, wie die Soldaten in ihren Schützengräben hocken und sich gegenseitig zu Tausenden zerfetzen.
Claras Sohn Hermann kommt von der Schule nach Hause und berichtet freudig: «Mutter, wenn die Reichsbank viel Gold hat, können wir 20 Jahre lang Krieg führen.»
Die Familie Haber wird indessen reich. Fritz bekommt für jedes Kilogramm Ammoniak 1,5 Pfennige, in Kriegszeiten ist das jährlich eine Million Mark. Als der Stellungskrieg keinen Sieger hervorzubringen scheint, wendet sich der preussische Kriegsminister Falkenhayn an Fritz. Er soll nach Giften forschen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen.
Clara wird schlecht. Sie spürt die Verantwortung als Wissenschaftlerin. Sie sucht immer wieder das Gespräch mit Fritz, mit den Wissenschaftlern im Kaiser-Wilhelm-Institut. Niemand hört ihr zu.
Was für Clara die perverse Umkehrung von Wissenschaft ist, ist für Fritz die logische Konsequenz aus dem industriellen Fortschritt, man stehe im Wettrennen mit den anderen Nationen. Gemeinsam mit der Farbenindustrie sucht er praktikable Kampfstoffe für die grosstechnische Giftgasproduktion. Chlor scheint sich besonders gut zu eignen.
Die Begasung der Versuchstiere bringt den erhofften Erfolg. Nun soll die Kriegstauglichkeit der Haberschen Chlorgasflaschen auf dem Schiessplatz Köln/Wahn getestet werden. Clara begleitet ihren Mann an die Westfront und versucht das Pionierregiment, das im Gaskrieg trainiert werden soll, von der ungeheuren Vernichtungskraft des Kampfstoffs zu überzeugen. Es sei doch die Erlösung vom Grabenkrieg, bekommt sie zur Antwort.
Sie kehrt verzweifelt nach Berlin zurück, während Fritz bereits in Ypern an der Front steht. Mit seiner selbst entworfenen, roten Phantasieuniform, von der er sich den nötigen Respekt erhofft. Wegen seiner jüdischen Herkunft hat er nur den Rang eines Vizewachtmeisters.
Clara will die Briefe aufbewahren. Als Zeugnisse dieses menschenverachtenden Wahnsinns – und als Warnung für die kommenden Generationen. Fritz wartet lange auf günstigen Nordwind. Etliche Male muss der Einsatz wieder abgebrochen werden – die Engländer rufen schon aus ihren Gräben: «German, no good wind? Wann kommt Gas?»
Am 22. April 1915 verlangt niemand mehr danach. Die deutschen Soldaten öffnen die Hähne der 6000 Flaschen und eine haushoche Gaswolke wälzt sich über die Gräben in Richtung Feind.
Senegalesen, Marokkaner, Algerier, Inder, Türken und Kanadier liegen tot auf der Erde. Die Franzosen und Engländer schickten ihre eigenen Landsleute wohl lieber nicht ins Gas. 18'000 Mann beträgt der Verlust auf französischer Seite an diesem Tag. Dazu kommen die Engländer.
Im deutschen Lager hebt der Gaskrieg sichtlich die Stimmung der kriegsmüden Soldaten. Endlich wird der Stellungskrieg in einen Bewegungskrieg überführt!
Fritz kehrt als Hauptmann befördert nach Berlin zurück. Er lässt sich in seiner Villa feiern, alle sollen ihn bewundern in seiner neuen, glänzenden Uniform. Endlich spielt die Chemie eine Hauptrolle. Endlich spielt Fritz eine. Er ist am Ziel – und Clara am Ende. Der gefeierte Hauptmann wirft seiner Gattin vor, dass sie ihm in den Rücken gefallen sei als Deutschland sich in grösster Not befand. Sie habe versucht, das Vertrauen zu zerstören, dass das Militär in ihn hatte. Das sei nicht zu verzeihen.
Den Schuss hört nur Hermann. Fritz hat sich mit Schlafmitteln vollgepumpt. Clara hat sich mit der Dienstwaffe ihres Mannes ins Herz geschossen. Zwei Stunden lebt sie noch. Am gleichen Tag eilt Fritz Haber an die Ostfront.
Claras Abschiedsbriefe sind verschwunden. In der Grunewald-Zeitung vom 8. Mai 1915 steht: