Schwefelhexafluorid – kurz SF6 – ist im Einsatz, wenn das Licht angeht. Wenn das Wasser im Teekocher siedet, das Smartphone sich auflädt, der Zug fährt und der Film über die Kinoleinwand flimmert. Kurz: SF6 wirkt fast immer dann im Hintergrund, wenn Strom benötigt wird. Denn es steckt in vielen Schaltanlagen, die elektrische Energie verteilen. Das Treibhausgas dient dort als Isolier- und Löschgas.
Schwefelhexafluorid ist nicht toxisch. Entweicht es, stellt es für die Menschen in der Umgebung keine Gefahr dar. Doch es gibt eine Eigenschaft, die es hochgefährlich macht: Es hat die stärkste Treibhauswirkung, die bekannt ist. So wirkt Schwefelhexafluorid 23'500-mal klimaschädlicher als die gleiche Menge Kohlendioxid (CO₂).
Dazu kommt: Ist es einmal in der Atmosphäre, bleibt es dort satte 3200 Jahre. «Aufgrund seines Treibhausgaspotenzials und seiner atmosphärischen Lebensdauer ist SF6 für uns extrem beunruhigend», sagt Martin Vollmer. Er forscht an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa und misst mit seinem Team unter anderem das Schwefelhexafluorid in der Atmosphäre.
Die Forschenden beobachten seit Jahren nur einen Trend: Die Konzentration von SF6 nimmt global zu. Und zwar linear. «Bereits wenn die Emissionen auf dem aktuellen Niveau bleiben, wird SF6 wegen seiner langen Lebensdauer eine immer bedeutendere Rolle unter allen Treibhausgasen einnehmen», sagt Vollmer.
Treten die Prognosen der Europäischen Kommission ein, dürfte es noch schlimmer werden. Diese geht EU-weit von einer steigenden Nachfrage nach SF6 aus. Es wird künstlich hergestellt, beziehungsweise synthetisiert. Bis 2050 prognostiziert die Kommission europaweit fast eine Verdopplung des Anstiegs. Konkret würde dies eine Zunahme von 28 Millionen Tonnen auf 48 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten bedeuten. Den Anstieg führt die EU-Kommission auf den wachsenden Elektrizitätsmarkt zurück. Aber auch – und dies verdeutlich das Dilemma rund um – SF6 den Ausbau des Stromnetzes, um erneuerbare Energien anzubinden.
Dies ist Wasser auf die Mühlen der Gegner der Windkraft in Deutschland. Sie sehen in SF6 ein «grünes» Argument für ihre eigene Sache und nutzen es insbesondere in den sozialen Medien, um die Windkraft zu denunzieren. Dabei geht allerdings unter, dass das Treibhausgas in Schaltanlagen diverser Kraftwerke steckt. Es spielt keine Rolle, ob der Strom durch Solarpanels, Biomasse, Kohle oder Atomkraft gewonnen wird. SF6 kann nicht einer Stromart zugeordnet werden.
Die stark zunehmenden Emissionen stammen vor allem aus dem asiatischen Raum, sagt Vollmer. «Allen voran aus China. Dort ist das Verlangen nach Strom sehr gross, aber die Anstrengungen zur Emissionsverminderung vermutlich noch nicht weit fortgeschritten.»
Die SF6-Emissionen in der Schweiz hingegen betrugen in den vergangenen fünf Jahren im Schnitt 177'000 Tonnen CO₂-Äquivalente. Das ist vergleichsweise wenig, wenn der schweizweite Ausstoss aller Treibhausgase betrachtet wird – nämlich nur 0.4 Prozent. Allerdings: «Könnten diese vermieden werden, entspräche das in etwa der Einsparung der Treibhausgasemissionen von 33'000 Personen pro Jahr, also etwa der Grösse der Stadt Neuenburg», sagt Vollmer.
Er weist darauf hin, dass die Emissionen primär aus einem spezifischen Betriebszweig stammen. «Mit geeigneten Alternativen und Techniken liessen sie sich somit relativ einfach vermeiden», sagt der Wissenschafter.
Gemäss Bundesamt für Umwelt (Bafu) stammt etwa ein Drittel der gesamten SF6-Emissionen der Schweiz aus elektronischen Anlagen. Ein Sechstel stammt aus Schallschutzfenstern, in die das Treibhausgas bis 2003 eingebaut wurde. «Die restlichen Emissionen stammen von unbekannten Quellen sowie aus der Forschung und Analytik wie beispielsweise von Teilchenbeschleunigern», heisst es beim Bafu.
Der Einsatz von Schwefelhexafluorid ist in der Schweiz grundsätzlich verboten. Früher steckte es nicht nur in Schallschutzfenstern, sondern auch in Autopneus oder in Nike-Air-Schuhen. Trotz des Verbots werden aber Ausnahmen zugelassen. Dazu gehören die Schaltanlagen, aber auch Teilchenbeschleuniger. Wieso, wenn doch immer mehr Städte oder Unternehmen SF6-freie Anlagen vermelden?
«Je höher die Spannung, umso schwieriger ist es, eine Alternative zu finden», sagt Christine Roth. Sie ist Ressortleiterin Umwelt bei Swissmem, dem Schweizer Verband der Tech-Industrie, und koordiniert die freiwillige Branchenlösung zu SF6. Mit dieser Vereinbarung sollen die Emissionen so gering wie möglich gehalten und die jährlichen SF6-Bilanzen erfasst werden.
«Hinter SF6 steckt auch eine Sicherheitsthematik. Dank der Isolationsfähigkeit des Gases kann kein elektrischer Durchschlag und somit kein Kurzschluss entstehen. Falls es zu Funken kommt, löscht es diese unmittelbar», sagt Roth. Zudem funktioniere SF6 sowohl bei Hitze als auch bei Temperaturen unter null Grad Celsius. «Kaum ein anderes Gas erfüllt all diese Anforderungen. Deshalb sind bei den Alternativen oft Gasgemische im Einsatz. Bei den Teilchenbeschleunigern benötigt der alternative Prozess gar hohe Mengen an Chemikalien und viel Energie, was aus ökologischer Sicht keine gute Lösung ist», sagt Roth.
Bei den weitaus öfter verwendeten Schaltanlagen bieten verschiedene Hersteller deutlich umweltfreundliche Alternativen an. ABB hat 2015 die erste SF6-freie Mittelspannungsanlage auf den Markt gebracht, die grösstenteils aus trockener Luft und Fluorketon besteht. Hersteller Siemens und Siemens Energy geben an, SF6-freie Produkte sowohl für Mittel- als auch Hochspannung anzubieten.
Siemens Energy arbeitet gemäss eigenen Angaben an SF6-freien Schaltprodukten für Höchstspannung. Gemäss Siemens und Siemens Energy bestehen ihre Alternativen lediglich aus Bestandteilen der Umgebungsluft (N2, O2 und CO₂) und sind frei von klimaschädlichen, fluorierten Gasen. Beide Anbieter betonen, dass ihre Anlagen nicht oder nur wenig mehr Platz benötigen als jene mit SF6.
Weshalb sattelt die Industrie also nicht konsequent um? Christine Roth verweist auf die Komplexität der Anlagen. Man könne SF6 in bestehenden Anlagen nicht einfach durch ein anderes Gas ersetzen. Dafür brauche es umfassende technische Anpassungen. «Solange die Lebensdauer der Anlagen noch andauert, ist ein flächendeckender Ersatz kein Thema. Die Investitionen und auch der Ressourcenverschleiss wären viel zu hoch», sagt Roth. Zudem brauche neue Technologie Zeit, bis sie vom Markt aufgenommen werde.
Doch weshalb verbietet der Bund nicht den Einbau von neuen SF6-Anlagen, wenn es – gerade im Bereich der Mittelspannung – durchaus Alternativen gibt? Das Bundesamt für Umwelt verweist dafür auf die EU. Dort seien Verbote für die Installation und den Ersatz von Mittelspannungsanlagen in Diskussion. Gemäss dem Entwurf würden diese voraussichtlich zwischen 2026 und 2030 in Kraft treten.
«Die Schweiz verfolgt diese Diskussionen eng und überprüft den Stand der Technik in Konsultation mit der Branche», teilt ein Sprecher mit. Die künftigen Regelungen in der Schweiz sollen jenen der EU «möglichst angeglichen werden», sobald diese beschlossen sind. (bzbasel.ch)