Ein notorischer Aufschieber erzählt: «Ich komme mir vor wie ein Drogensüchtiger»
Herr Waser, haben Sie heute bereits aufgeschoben?
Philipp Waser: Ich bin heute zu spät aufgestanden, weil ich gestern zu spät ins Bett bin. Ich konnte nicht 
schlafen, weil ich über Dinge nachdenken musste, die ich noch nicht erledigt habe. Wie jeden 
Tag. Irgendetwas erledige ich immer nicht, meistens sind es kleine Dinge, Alltägliches.
Was ist Prokrastination?
Es wird zunächst zwischen zwei Typen unterschieden:
Erregungsaufschieber reagieren erst auf den letzten Drücker und geniessen den der Hochdruck zum Schluss. Oft behaupteten sie, erst dadurch kreativ zu werden.
Vermeidungsaufschieber leiden unter der Angst zu versagen meiden deshalb den Leistungsdruck, den eine Aufgabe erzeugt.
Studien haben gezeigt, dass Menschen mit «Aufschieberitis» häufiger an Erkältungen, Grippe, Magenproblemen und Schlafstörungen leiden sowie einen erhöhten Alkoholkonsum haben.
Prokrastination gilt nicht als psychische Erkrankung. Dementsprechend gibt es bisher kaum systematische Behandlungsansätze, die auf die Behandlung einer isolierten Aufschiebe-Symptomatik abzielen.
Wie zum Beispiel?
Ich räume den Geschirrspüler so lange nicht aus, bis der Dreck sich stapelt. Ich habe Mails in 
meinem Posteingang, die ich nie beantwortet habe. 
Das klingt doch ziemlich normal.
Ich stelle zwei Jahre keine Rechnungen für meine Leistungen aus. Briefe bleiben über Monate 
liegen. Die Krankenkasse hat 2000 Franken an Rückzahlungen verweigert, weil ich fünf Jahre 
zu spät damit ankam. Klingt das immer noch normal?
Was war bisher die schlimmste aller Konsequenzen?
Mit 30 habe ich meine erste Firma gegründet, habe nie Jahresabschluss gemacht, nach ein 
paar Jahren war die Einschätzung der Steuerbehörde bei 35'000 Franken, obwohl die Firma 
gar nicht mehr aktiv war. Ich wollte die Schulden erst mit meinem Privatvermögen 
begleichen, ging dann aber in Konkurs. Das war meine Rettung.
Wann haben Sie realisiert, dass Sie krankhaft aufschieben?
Ich habe es lange nicht wirklich als Problem gesehen. Als Junge bin ich mal ein halbes Jahr 
nicht in den Französischunterricht gegangen. Das Studium habe ich mit Ach und Krach 
geschafft. Dabei begreife ich Dinge schnell. Mit Mitte Zwanzig habe ich bei einer Grossbank 
im Aktienhandel angefangen, 50 Stunden-Woche, Boni, Stress und Leistungsdruck. Aber 
Aufschieben ist in jedem Job möglich. Egal, wie stressig er ist. Wenn der Kurs schwankt, 
kann man nicht warten. Aber Reports, Berichte, Analysen, die kann man vernachlässigen. 
Haben Sie sich professionelle Hilfe geholt?
Ja, ich bin in Therapie, auch wegen meiner wiederkehrenden depressiven Phasen. Ich war 
schon mehrere Male nahe an einer Depression, habe den Lebensmut verloren. Dieser ewige 
Kreislauf von Schuld und Scham macht einen noch verrückt. Auch deshalb habe ich eine 
Selbsthilfegruppe gegründet. Um anderen Betroffenen zu helfen. Wir treffen uns in 
unregelmässigen Abständen und arbeiten zusammen unangenehme Dinge ab, wie das 
Ausfüllen der Steuererklärung, beispielsweise. 
Kennen Sie die Gründe für Ihr zwanghaftes Aufschieben? 
Nein. Nicht einmal mein Psychiater kennt die Gründe. Man kann nicht genau sagen, woher es 
bei mir kommt. Es ist wohl ein Miteinander von verschiedenen Faktoren.
Sie wollen Ihren echten Namen nicht nennen. Aus Angst, stigmatisiert zu werden?
Mein Psychiater und meine Mutter sind die Einzigen, die wirklich von meinem Leiden wissen.
Was soll man den Leuten denn schon erzählen? Keiner hat doch für so etwas Verständnis. Die 
Gesellschaft mag es nicht, wenn du unpünktlich bist, deine Termine nicht einhältst.
Hat Ihre Krankheit auch Einfluss auf Ihr Privatleben?
Ja, definitiv. Weil ich tagsüber Sachen verschlampe, muss ich oft Abends noch arbeiten. 
Darunter leidet die Zeit mit Freunden, mit Frauen. Ich habe nie Zeit für andere. Oder für mich 
selbst. Ich kann mich nie entspannen, so paradox das klingen mag. Ich muss aufpassen, dass 
ich im Rhythmus bleibe.
Das klingt wie bei einem Süchtigen.
Ein bisschen fühlt es sich ja auch so an. Ich spiele beispielsweise Videospiele, und kann nicht 
aufhören. Ich spiele teils vier, fünf Stunden täglich, bis vier Uhr morgens, im Dunkeln, in 
meinem Bett. Ich habe von der Serie Walking Dead innerhalb einer Woche drei Staffeln 
geschaut, 30 mal 45 Minuten, man kann sich das ja ausrechnen. Manchmal komme ich mir 
wie ein Drogensüchtiger vor. Eine noch, denke ich, eine Folge kann ich mir noch leisten. Am 
Tag danach dämmert mir dann, dass ich mir was vorgemacht habe. Dann mache ich mir 
Vorwürfe, und es geht mir schlecht. Aber es wird immer besser. Ich habe meine eigenen 
Techniken gefunden, um mit dem Problem umzugehen.
Wie zum Beispiel?
Ich versuche, so gut es geht, mein Leben so zu strukturieren, dass es mit meiner Krankheit 
vereinbar ist. Ich setze Meetings zum Beispiel morgens an, um aus dem Bett zu kommen. Ich 
brauche klare Strukturen und Termine. 
Sie halten den inneren Schweinehund im Zaum.
Es gelingt mir nicht immer. Aber ab und zu ganz gut. Vor ein paar Monaten habe ich meine 
CD-Sammlung endlich sortiert, nach Jahren im Schrank, meine Mutter hat mir dabei 
geholfen. Alleine wäre es nicht gegangen. Jetzt habe ich 600 CD's weniger. Das war sehr 
befreiend. Als wäre eine grosse Last von meinen Schultern gefallen. 
*Name geändert


