Die Angst kam plötzlich, aber allzu verwunderlich war es auch wieder nicht, dass die Seele von einem Tag auf den anderen aus dem Gleichgewicht geriet. Denn Michaela B. (Name geändert), Mitte fünfzig und Mutter zweier erwachsener Kinder, hatte in den vergangenen Jahren einiges durchgemacht.
Acht Rücken- und sechs Unterleibsoperationen kosteten sie viel Kraft – über zwei Jahrzehnte hinweg verbrachte die Mutter und Angestellte jährlich ein paar Wochen im Spital. «Es war eine schwere Zeit», erzählt Michaela. «Nach der letzten Rücken-OP begannen die psychischen Probleme.»
Urplötzlich war die Angst da, die Kontrolle zu verlieren. Das erste Mal setzte das panische Gefühl nach einer Autofahrt ein: Michaela befürchtete, ein Kind überfahren zu haben – obwohl die Fahrt ganz ruhig und ohne Vorkommnisse verlaufen war. «Ich fuhr den Weg fünf Mal ab, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist», blickt die heute über 60-Jährige zurück. «Das war der Beginn meiner Zwangsstörung.»
Zuerst war da wiederholt die Angst, jemanden überfahren zu haben. Dann setzten weitere Ängste ein. Raumgreifend ist vor allem der Gedanke, andere womöglich zu vergiften. Eine irrationale Vorstellung, aber nicht wieder aus dem Kopf zu bekommen. Michaela B. wollte alsbald keinen Laden mehr betreten: «Ich befürchte etwa, Putzmittel in Mineralwasserflaschen zu füllen.» Ganz gross ist die Angst, Kindern etwas anzutun.
Irgendwann hört die leidgeplagte Frau auch damit auf, in die Ferien zu fahren: «Die Putzwagen in den Hotelfluren jagen mir Angst ein mit all ihren abgefüllten Chemikalien – wie schnell könnte ich da zu einem Putzmittel greifen und es in eine Trinkflasche umfüllen, um jemanden zu vergiften.»
Eine Frau, die nie jemandem etwas zuleide getan hat, nie einen realen Vorfall mit Gift erlebt oder einen Verkehrsunfall verursacht hat, leidet plötzlich unter solch irrationalen Zwangsvorstellungen. Michaela und ihr Mann fühlen sich rat- und hilflos. Ihr Leben ist über alle Massen eingeschränkt.
Die psychisch Erkrankte schildert ihren Alltag: «Jeder Spaziergang wird zur Herausforderung, jede Einladung. [...] komme ich an einem Spielplatz vorbei, befürchte ich, einem Kind etwas anzutun. [...]» Völlig am Ende ihrer Nerven ist die Zentralschweizerin zudem, seit sie morgens bereits mit Herzklopfen aufwacht und Angst vor der Angst hat, die nun einsetzen wird.
Sieben Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hat die ehemals starke Frau hinter sich. Nichts scheint zu helfen, weder die stationären Aufenthalte noch die ambulante Psychotherapie, der sich Michaela seit Jahren unterzieht. Auch Psychopharmaka und Versuche mit Hypnose oder kognitiver Verhaltenstherapie bleiben wirkungslos.
«Dabei setzt man sich konkret Situationen aus, die Panik verursachen, zuerst mit einem Therapeuten zusammen, dann allein», erklärt Michaelas Ehemann. Seine Frau ergänzt traurig: «Geholfen hat es bei mir nichts.» Die Psychologen seien ratlos.
Die zweifache Mutter leidet auch immer noch an ihrem Körper. «Der Rücken macht vieles nicht mit, was länger dauert – Kinobesuche oder Wandern liegen nicht mehr drin. So ist es sehr schwierig, sich mal zu entspannen.» Gar nicht gutgetan habe es ihr ausserdem, nicht mehr arbeiten zu können: «Ich ging sehr gerne ins Büro.»
Sie sei früher gar kein ängstlicher Mensch gewesen, erzählt Michaela nicht ohne Wehmut im Gesicht. Inzwischen sei sie ständig müde von all den Panikattacken. Doch im Moment der Angst sei kein rationales Denken mehr möglich, die Attacke sei einfach stärker.
Thomas Burri, diplomierter Sozialarbeiter und Geschäftsleiter der Selbsthilfe Luzern Obwalden Nidwalden, spricht von einer «generalisierten Angststörung» bei Michaela B. Burri: «Die Ängste münden in Erschöpfung und Depression. [...] Zwangshandlungen muss man immer wieder ausführen, obwohl man weiss, dass sie eigentlich keinen Sinn machen. Sie dienen der Vorbeugung vor befürchtetem Unheil.»
Michaela B. sagt, resigniert und zuversichtlich zugleich: «Ich habe noch nie jemanden getroffen, der die gleichen Ängste hat wie ich. Aber ich hoffe immer noch, jemanden zu finden, der das Gleiche durchmacht.»
Michaelas Ehemann teilt das Schicksal seiner Frau auf gewisse Weise: So fährt auch er nicht mehr in die Ferien, bucht keine Hotels mehr, geht nicht mehr ins Kino oder zum Wandern. Im Alltag übernimmt er vieles, das seine Frau sich nicht mehr getraut. Für beide ist das soziale Leben inzwischen sehr eingeschränkt.
Einzig Musik hilft Michaela bislang etwas dabei, zwischendurch zur Ruhe zu finden und durchzuatmen. «Ja, das bringt ein bisschen was.» Mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein ist es trotzdem nicht.
Eine völlige Heilung erwartet die psychisch Erkrankte aber gar nicht. Eine merkliche Verbesserung ihres Befindens erhofft sie sich jedoch schon. Michaela B. wünscht sich, einfach mal an einen Punkt zu kommen, an dem die Panik nicht mehr die Oberhand hat. Helfen könnte der Austausch mit gleichermassen Betroffenen: «Meine grosse Hoffnung ist eine Selbsthilfegruppe.»
Als Aussenstehender – sogenannt normaler, gesunder Mensch – lässt sich das Leid kaum erahnen, geschweige denn rational verstehen.
Umso einsamer fühlen sich Betroffene. Dazu kommt die Stigmatisierung psychisch Kranker.
Deshalb die Hilfe und Aufklärung umso wichtiger, um Unsicherheit und Berührungsängste abzubauen.
Hinter den individuellen Schicksalen verbergen sich oft unglaublich feine, emphatische und interessante Menschen, welche sich nicht nur auf ihre Krankheit reduzieren lassen.
Michaela und ihrem Mann wünsche ich von ganzem Herzen Kraft und Hoffnung.
Ich wünsche ihr viel Kraft auf ihrem Weg...
Ich wünsche Michaela B. und ihrer Familie alles Liebe, und dass sie einen Weg aus der Krankheit finden kann. Und ich wünsche ihnen ein verständnisvolles Umfeld, das mit der Krankheit gut umgehen kann, das kann schon etwas entlasten.