Auf dem Papier ist die Sache klar. Forscher im deutschsprachigen Raum sind sich einig, dass Menschen aufgrund ihrer Genetik nicht in Rassen eingeteilt werden können. Erst letztes Jahr veröffentlichten deutsche Anthropologen die Jenaer Erklärung, in der sie postulieren, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft sich weder genetisch noch vom Aussehen genügend unterscheiden, um sie in Gruppen einzuteilen. Sie forderten deshalb, dass der Begriff Rasse im Zusammenhang mit Menschen nicht mehr verwendet wird.
Sprachlich lässt sich die Forderung umsetzten. Doch in der Medizin ist das Einteilen von Menschen aufgrund ihrer Herkunft ein wichtiges Hilfsmittel, auf das viele Ärzte nicht verzichten. Denn mit einem schnellen Blick auf die Abstammung eines Patienten lassen sich oft bessere Diagnosen erstellen als ohne.
Wenn zum Beispiel ein schwarzes Kind über Müdigkeit klagt und gelbliche Augen hat, werden die meisten Ärzte es sofort auf Sichelzellanämie testen - eine Erbkrankheit, die in der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung extrem viel häufiger vorkommt.
Ein weisses Kind mit den gleichen Symptomen wird dagegen zuerst auf ganz andere Krankheiten getestet, bevor ein Mediziner bei ihm eine Sichelzellanämie vermutet.
Anita Rauch, Direktorin des Instituts für Medizinische Genetik an der Universität Zürich erklärt:
Bei der zystischen Fibrose zum Beispiel mache es einen grossen Unterschied, ob man deutschschweizerischer oder italienischer Abstammung sei. Das bestätigt auch Sven Cichon, Leiter der Medizinischen Diagnostik am Universitätsspital Basel.
Einer der bekanntesten amerikanischen DNA-Forscher, David Reich, forderte aus diesem Grund vor einiger Zeit in der New York Times, dass die Wissenschaft Unterschiede zwischen den Menschen genauer untersucht und sie speziell zur Verbesserung der medizinischen Behandlung nutzt. Davon könnten insbesondere Menschen mit Nicht-Europäischer Abstammung profitieren.
Eine 2019 in Nature Genetics publizierte Studie untersuchte verschiedene Diabetes-Vorhersagetests aus Grossbritannien und fand heraus, dass diese bei europäischstämmigen Probanden 4.5 Mal genauer sind als bei afrikanischstämmigen. Im Vergleich mit Asiaten funktionierten die Tests bei Europäern ebenfalls besser: Sie diagnostizierten Risikopersonen mit doppelt so hoher Genauigkeit korrekt.
Grund dafür ist, dass der grösste Teil der medizinischen Forschung an Patienten europäischer Herkunft durchgeführt wird. Die Forschungsresultate lassen sich aber nicht eins zu eins auf Menschen anderer Abstammung übertragen.
Sven Cichon, Professor für Medizinische Genetik am Universitätsspital Basel erklärt:
Das ist für viele Forscher nicht nur aus finanziellen Gründen eine Herausforderung, sondern auch eine Frage der Machbarkeit.
Die Wissenschaft hat bisher nicht von allen menschlichen Populationen gleich viele genetische Daten. Die britischen Diabetestests wurden zum Beispiel mithilfe der UK Biobank entwickelt, einer der grössten öffentlichen Datenbanken der Welt, welche die genetischen Informationen von über 500 000 Menschen aufbewahrt. Das Problem der Sammlung: 94 % der dort gespeicherten Daten stammen von Weissen und nur etwa 1.5 % von Schwarzen.
Aktuell gibt es zwar ganz neue statistische Ansätze, mit welchen die Genauigkeit von Vorhersagetests bei schwarzen und asiatischen Patienten erhöht werden soll. Doch auch diese benötigen mindestens kleinere Datensätze von genetisch diversen Gruppen.
Genetik-Professorin Anita Rauch hält die Risiko-Vorhersagetests deshalb noch nicht reif für die Klinik:
Das sei gerade auch vor drei Wochen noch mal an der Europäischen Humangenetik-Tagung in Berlin festgehalten worden. Anderer Meinung sind amerikanische Ärzte. In den USA werden die Tests nämlich bereits eingesetzt und sind sogar für Private erhältlich.
Die amerikanische Gesundheitsbehörde gewichtet biologische Unterschiede stärker als ihre europäischen Pendants. Die FDA liess bereits ein Medikament zu, dass auschliesslich Personen einnehmen dürfen, die sich selbst als schwarz identifizieren. Das Herzmedikament BiDil wurde speziell mit der Unterstützung von schwarzen Politikern zu einem zugelassenen rassespezifischen Medikament. Die Fachwelt diskutiert aber heute noch, ob die Entscheidung sinnvoll war.
Kritiker des Rasse-Medikaments bemängeln, es sei nur aus Marketingründen als «erstes Medikament ausschliesslich für Schwarze» angemeldet worden. Tatsächlich gab es bei der Zulassungsprüfung im Jahr 2005 nur eine einzige grosse Studie mit ausschliesslich schwarzen Teilnehmern und nie einen grossangelegten Vergleich bei dem geprüft wurde, ob BiDil nicht auch in Menschen mit anderer Abstammung wirkt.
Die Wirkungslosigkeit bei Nicht-Schwarzen wurde von der Herstellerfirma nur angenommen, weil Experimente in kleinem Rahmen an weissen Patienten vor der Zulassung gescheitert waren. Trotzdem halten viele amerikanische Kardiologen weiter am rassebasierten Verschreiben von BiDil fest.
Auch europäische Behörden teilen Menschen nach wie vor in biologisch unterscheidbare Gruppen ein. Einige Medikamente, wie das Epilepsiemedikament Carbamazepin, verursachen bei Asiaten zehn Mal häufiger schwere Nebenwirkungen wie bei Europäern.
Die Gesundheitsbehörden empfehlen Ärzten deshalb, asiatische Patienten vor der Behandlung auf das Komplikationsrisiko zu testen. Die Swissmedic empfiehlt eine Abklärung ebenfalls nur für Patienten, «deren Abstammung ein Risiko für das Auftreten von unerwünschten Hautreaktionen bedeutet.»
Langzeitstudien aus Asien haben gezeigt, dass zum Beispiel Japaner nach einer Knieoperation ein 1.5-fach erhöhtes Risiko haben, in den nächsten neun Jahren eine Revisionsoperation zu benötigen. Als Ursache wird vermutet, dass die im Westen entwickelten Knieprothesen nicht perfekt auf asiatische Knie passen. Die Form des Knochens stimmt in Europäern und Asiaten nicht genau überein. Chirurgen fordern von den grossen Medizinaltechnik-Firmen darum, dass diese ihr Angebot vergrössern und individuelle Prothesen für asiatische Knie entwickeln. Auch der grösste schweizerische Verband der orthopädischen Chirurgen unterstützt das Anliegen.
Doch die gutgemeinten Ansätze haben einen Haken: Sie setzten voraus, dass man jedem Patienten seine Herkunft ansieht. Eine Kniepatientin mit einem einzigen chinesischen Urgrossvater kann von diesem jedoch die Knieform geerbt haben. Wenn sie eher europäisch aussieht, wird kein Arzt erkennen können, dass eine «asiatische» Prothese für sie besser geeignet ist.
Dazu kommt, dass die historische Einteilung in «Rassen» mit Hautfarbe als Hauptkriterium oft nur wenig über die Genetik - und damit die biologischen Unterschiede - aussagt. Heute weiss man zum Beispiel, dass das Genom von westafrikanischen Schwarzen mehr mit dem von Weissen übereinstimmt anstatt mit dem von Schwarzen aus Südafrika.
Immer mehr Wissenschafter setzten deshalb auf ein Konzept, dass die biologischen Unterschiede stärker gewichtet, ohne dabei das Aussehen zu berücksichtigen. Unter dem Stichwort «Personalisierte Medizin» oder «Präzisionsmedizin» werden individuelle Therapien entwickelt, die anhand der tatsächlichen genetischen Ausstattung eines Patienten verschrieben werden.
Anstatt dass Ärzte aufgrund des Aussehens die Genetik und die damit verbundene Risiken einschätzen, identifizieren dabei Gentests das Risiko für eine Krankheit. Einige Forscher träumen sogar davon, dass zukünftig jeder Mensch ein genetisches Risikoprofil von sich erstellen lassen kann, anhand dem direkt alle Medikamente ablesbar sind, die bei ihm Nebenwirkungen verursachen.
Einen wichtigen Schritt in Richtung dieser Vision unternahm die amerikanische Gesundheitsbehörde diesen Frühling. Sie publizierte erstmals eine Liste mit Medikamenten, die bei Patienten abhängig vom genetischem Aufbau unterschiedlich dosiert werden sollen. Zwar gab die Behörde keine direkte Empfehlung heraus, dass alle Patienten, welche die Medikamente einnehmen, auf ihre Genetik getestet werden sollen. Sie bestätigte aber, dass die Tests für Personen, die sie sich leisten können, eine bessere Behandlung ermöglichen.
«Gentests werden in Zukunft häufiger eingesetzt werden, auch damit Ärzte nicht mehr anhand des Aussehens einen Rückschluss auf die Genetik machen müssen», ist Genetik-Professorin Anita Rauch von der Universität Zürich sicher. Wie schnell und bei welchen Fragestellungen das der Fall sei, werde sich in den nächsten Jahren zeigen. (cki/bzbasel.ch)
Einfach die Hautfarbe als Proxy zu nehmen ist nicht nur ungenau, es kann auch gefährlich für den Patienten sein. Wie bereits im Artikel beschrieben ist die genetische Variation auch innerhalb einer "Rasse" immens, sodass sich selbst in der Schweiz die Menschen nördlich und südlich der Alpen medizinisch relevant unterscheiden.
Afrika und Asien sind nochmal ein bisschen Grösser. Man sieht einem Syrer den Unterschied zu einem Japaner ja meist auch von weitem an.
Sollte das nicht heissen: „...die schwarz sind.“
Das macht ja sonst keinen Sinn oder?