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Entzaubertes Wundermittel: Der fragwürdige Hype um Tamiflu

Bild: KEYSTONE
Studiendaten analysiert

Entzaubertes Wundermittel: Der fragwürdige Hype um Tamiflu

Donald Rumsfeld als Profiteur, Suizide nach der Einnahme, Studiendaten unter Verschluss – die Geschichte von Tamiflu bietet einige pikante Details.
10.04.2014, 18:5911.11.2020, 09:00
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Vogel- und Schweinegrippe verhalfen dem zuvor wenig gefragten Grippemittel Tamiflu zu einem Boom – und dem Basler Pharmakonzern Roche zu Milliardengewinnen. Mütter verabreichten ihren Kindern prophylaktisch das «Wundermedikament», Staaten bunkerten Tamiflu in grossen Mengen und gaben dafür Millionen aus – die britische Regierung allein rund eine halbe Milliarde Pfund (750 Millionen Franken).

Zweifel an der Wirksamkeit von Tamiflu gibt es schon lange. Der «Beobachter» bezeichnete es 2009 als «Glaubenspille». Nun kommt die Cochrane Collaboration, ein unabhängiges Forschernetzwerk, nach einer Auswertung von internen Roche-Studien zum Schluss, dass Tamiflu die Grippesymptome kaum lindert und die Nebenwirkungen unterschätzt wurden. Wie kam es zum Hype um das entzauberte Wundermittel? Eine Chronologie:

1997

Secretary of Defense Donald Rumsfeld talks with reporters about Iraq at the Pentagon in Washington Friday, August 3, 2001. (AP Photo/Hillery Smith Garrison)
Bild: AP

Roche kauft dem kalifornischen Biotech-Unternehmen Gilead Siences die Lizenz für das Antigrippemittel Oseltamivir ab. Daraus wird Tamiflu entwickelt. Der Verwaltungsratspräsident von Gilead trägt einen illustren Namen: Donald Rumsfeld (Bild). Nach seiner Ernennung zum US-Verteidigungsminister im Jahr 2001 kauft er für die Streitkräfte Tamiflu im Wert von 58 Millionen Dollar. Als Aktionär von Gilead profitiert er weiterhin von den Verkäufen des Medikaments.

1999

Tamiflu kommt in der Schweiz auf den Markt. Die EU verlangt zusätzliche Abklärungen, das Mittel wird erst 2002 zugelassen. Anfangs entwickelt sich der Absatz enttäuschend, auch wegen des hohen Preises von mehr als 80 Franken für eine Packung mit zehn Tabletten.

2003

Laurent Kaiser vom Universitätsspital Genf veröffentlicht eine Studie, die Tamiflu eine hohe Wirksamkeit bescheinigt: Die Zahl der Spitaleinweisungen bei einer Grippe-Epidemie lasse sich damit um 59 Prozent reduzieren. Die Kaiser-Studie basiert auf zehn Einzelstudien, die alle von Roche finanziert wurden. Nur zwei werden separat veröffentlicht. Die Cochrane Collaboration wird erstmals misstrauisch.

2004

Thai veterinarian from Thai livestock department Amnart Roongrojsiboon, takes sample of a dropping from a chicken at Chattuchuk market in Bangkok, Thailand Tuesday 27 January 2004 to check for the avi ...
Bild: EPA

In Hongkong taucht das potenziell tödliche Vogelgrippevirus H5N1 auf. Roche bezeichnet Tamiflu als wirksames Gegenmittel, worauf mehr als 50 Staaten das Medikament beschaffen. In der Schweiz kaufen Bund und Kantone rund 150'000 Packungen und geben dafür vier Millionen Franken aus. Obwohl die befürchtete Pandemie ausbleibt, wird aus dem Ladenhüter ein Kassenschlager.

2006

Die Cochrane Collaboration veröffentlicht im Fachmagazin «Lancet» eine Studie. Demnach gibt es keinen Beweis, dass Tamiflu oder Relenza, ein vergleichbares Produkt von GlaxoSmithKline, gegen Vogelgrippe schützen. In Japan, dem einzigen Land, in dem Tamiflu in grossem Stil verabreicht wurde, werden schwere Nebenwirkungen festgestellt. Dazu gehören neben Kopfweh und Übelkeit auch psychische Störungen. Mehrere Suizide werden mit der Einnahme von Tamiflu in Zusammenhang gebracht.

2009

People wear surgical masks as a precaution against infection inside a subway in Mexico City, Friday, April 24, 2009. Mexican authorities said 60 people may have died from a swine flu virus in Mexico,  ...
Bild: AP

Trotz zunehmenden Zweifeln erlebt Tamiflu erneut einen Boom, dank der in Mexiko festgestellten Schweinegrippe. Regierungen bestellen das Medikament in grossen Mengen, obwohl es gegen die saisonale Grippe weitgehend resistent geworden ist. Bald schon tauchen auch erste Schweinegrippe-Erreger auf, gegen die Tamiflu nicht mehr wirkt.

2014

Die neue Cochrane-Studie wird in der Fachzeitschrift «British Medical Journal» (BMJ) veröffentlicht. Demnach dauerten die Grippesymptome mit Tamiflu bei Erwachsenen nur 6,3 statt 7 Tage, bei anderweitig gesunden Kindern verkürzten sie sich um einen Tag. Keinen Hinweis fanden die Forscher darauf, dass das Mittel die Zahl von Spitaleinweisungen, von ernsthaften Komplikationen wie Lungenentzündungen oder die Mensch-zu-Mensch-Übertragung reduziert. Dafür fand die Studie einen deutlichen Anstieg von Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen sowie ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme, Nierenprobleme und Kopfschmerzen.

Der Studie war ein Streit mit Roche um interne Studiendaten vorausgegangen. Jahrelang hatte sich der Basler Pharmakonzern geweigert, die Daten öffentlich zu machen. «Wäre Roche von der Wirkung von Tamiflu überzeugt, müsste es seine Daten doch gerne zeigen», meinte der US-Wissenschaftler Peter Doshi, ein Mitglied der Cochrane Collaboration. GlaxoSmithKline war nach Angaben von Studienleiter Tom Jefferson zugänglicher, obwohl Relenza in der Untersuchung ähnlich schlecht wegkommt wie Tamiflu. Im September 2013 stellte Roche schliesslich die gesamten Studiendaten zu Tamiflu zur Verfügung.

In einer Stellungnahme kritisiert Roche die Cochrane-Studie und ihre Autoren. «Die Entscheidungen von weltweit 100 Zulassungsbehörden sowie die in der Anwendungspraxis gewonnenen Daten belegen, dass Tamiflu ein wirksames Arzneimittel zur Behandlung und Prävention der Influenza-Infektion ist», heisst es darin. Man sehe das Gremium, «das sich selbst als unerfahren im Umgang mit grossen Datenmengen aus klinischen Studienberichten bezeichnet, nicht als Instanz zur Beurteilung des Nutzens» dieser Medikamente an.

Selbst Mediziner wollen Tamiflu nicht aufgeben. Die britische Grippeforscherin Wendy Barclay vom Imperial College in London forderte gegenüber der BBC sogar, man solle die Bestände wieder aufstocken: «Was sollen wir im Fall einer Pandemie sonst tun? Wir werden in den ersten sechs Monaten keinen Impfstoff haben.» Barclay kritisierte, dass sich die Studie nur auf die saisonale Grippe: «Wenn Tamiflu dann nur wenig wirkt, so besteht doch die Chance, dass es in einer Pandemie um einiges besser wirkt und mehr Menschen zurück zur Arbeit und in die Schulen bringt», so die Professorin.

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