Jetzt hat es also eine Polizistin getötet.
Es ist der 25. April 2007, gegen 14 Uhr: Schüsse fallen auf einem Parkplatz an der Heilbronner Theresienwiese. Michèle Kiesewetter ist sofort tot, ihr Kollege Martin Arnold wird danach mehrere Wochen im Koma liegen und – mit einem Teil des Projektils im Kopf – überleben.
Im Dienstfahrzeug des Opfers wird die DNA des Phantoms festgestellt. Die Spuren der UWP, wie sie im Polizistenjargon heisst, jene Unbekannte Weibliche Person, die seit 14 Jahren ihr Unwesen treibt.
Davor hinterliess sie bereits Spuren auf einem angebissenen Keks, nachdem sie mutmasslich in einen Wohnwagen eingebrochen war. Auch Gartenlauben, Optiker, Büros, Wohnungen, Hotels, Gaststätten, Elektromärkte, Vereinsheime, Unterkünfte für Obdachlose und Asylanten, Hallenbäder und Schulen waren vor ihr nicht sicher. Sie schien nicht nur Diesel aus Baumaschinen zu stehlen, sondern auch Autos und Motorräder in ganz Deutschland und Österreich.
2004 tauchte ihr Erbgut im französischen Arbois auf, auf einer Spielzeugpistole klebend, die bei einem Überfall auf vietnamesische Edelsteinhändler verwendet worden war.
Elf Jahre zuvor wurde ihre DNA an Lieselotte Schlengers Tasse gefunden. Die im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein wohnhafte Rentnerin wurde mit einem Blumendraht erdrosselt. Der 61-jährige Josef Walzenbach aus Freiburg in Breisgau fand 2001 auf dieselbe Weise den Tod, ihm wurde jedoch zusätzlich der Schädel mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert. Auf seinen Küchenschubladen fand man die DNA des Phantoms, die man sieben Monate darauf auch in einem Waldstück in Gerolstein an einer Heroinspritze sicherstellte.
Und nun also der Mord an einer 22-jährigen Polizistin. So kann das nicht weitergehen. Das Phantom muss endlich gefasst werden. Dafür sind fortan Frank Huber von der Polizeidirektion Heilbronn und sein eigens dafür geschaffenes Team zuständig: die Sonderkommission Parkplatz.
Huber ist gerade 40 geworden. In seinem Besprechungszimmer hängt ein Bild der erschossenen Michèle Kiesewetter wie eine Mahnung an der Wand. Es ist sein erster grosser Fall. So gross, dass gleich 50 Leute daran arbeiten, deren Ergebnisse wiederum von hessischen Kollegen überprüft werden, damit bloss kein Detail übersehen wird.
Doch das Phantom scheint sich mit jeder neu hinzukommenden Spur weiter aufzulösen, ein form- und gesichtsloses Gespenst, das ohne erkennbares Motiv zuschlägt und flugs durch die vielen Polizistenfinger schlüpft, die es verzweifelt festzuhalten versuchen.
Huber besucht die Tatorte der vorangegangenen Morde, an denen die DNA der UWP gefunden worden war. Da, wo die beiden erdrosselten Rentner laut Profilern «übertrieben brutal» ermordet worden seien. Und er fährt weiter nach Österreich, begutachtet die aufgebrochenen Gartenhäuschen, Geschäfte und Gaststätten, an denen das Phantom ebenfalls aufgetaucht war. Die 2001 sichergestellte Heroinspritze und die diversen Einbrüche in Kleingärten in der Umgebung bestärken Hubers Verdacht, die Gesuchte könnte im Drogenmilieu zu Hause sein. Speichelproben von 800 Frauen aus der Heilbronner Szene hat die Soko Parkplatz genommen, doch die Phantom-DNA fand sich nicht darunter.
Ein Jahr ist seit dem Mord an Michèle Kiesewetter vergangen, 2000 Überstunden wurden geleistet, 200 Aktenordner gefüllt und alles, was die inzwischen auf 20 Leute geschrumpfte Soko Parkplatz mit ziemlicher Sicherheit weiss, ist, dass die Tat von mindestens zwei Tätern begangen wurde, die mit den Opfern weder verwandt noch bekannt waren. Und dass die «spurenlegende Person» daran beteiligt war – in welcher Form, das weiss die Soko nicht.
Die spärlichen Informationen zum Phantom teilt sie mit den Reportern, die zum Jahrestag zu Hunderten in der Heilbronner Polizeidirektion anrufen. Dreimal war der Fall bei «Aktenzeichen XY» in der Hoffnung auf neue Hinweise aus der Bevölkerung, doch auch dadurch ergibt sich nichts Neues.
Kein Zeuge scheint das Phantom je gesehen zu haben, keiner kann sich erinnern, niemand hat eine Ahnung. Die Ermittlungen kommen nicht voran, einzig die UWP zieht ihre Schneise der Zerstörung unaufhaltsam weiter.
Die Sonderkommission des Landeskriminalamtes von Rheinland-Pfalz stösst im März 2008 in Heppenheim abermals auf die Phantom-DNA. Im alten Ford von einem ihrer V-Männer. Darin wurden ein paar Wochen zuvor die Leichen von drei georgischen Gebrauchtwarenhändlern transportiert, die danach im Altrhein bei Mannheim landeten. Der V-Mann sitzt in Untersuchungshaft und beschuldigt den von ihm für die Polizei bespitzelten Somalier des Mordes an den drei Georgiern. Über das Phantom aber will er nichts wissen.
Der Fall scheint komplex. So viele Spuren, die man nicht zusammenführen kann. Mal deuten sie auf gut organisierte Einbrecher, ein anderes Mal sieht es nach dilettantischen Versuchen jugendlicher Diebe aus. Dasselbe gilt für die Morde; einmal scheint es das Werk eines Profikillers, dann aber zeigt das Opfer wieder Zeichen rohster Gewalteinwirkung.
Und das Phantom ist immer da.
Im April 2008 in Oberstenfeld bei Stuttgart bei einem Wohnungseinbruch, vier Wochen später in Saarhölzbach im Saarland bei einem brutalen Überfall auf die Pächterin eines Vereinsheims. Und dann, im Oktober, wieder im Landkreis Heilbronn, in Weinsberg, im silbergrauen Fiat Panda der Krankenschwester Diana Pawlenko, deren lebloser Körper unweit ihres Autos in einem Regenüberlaufbecken von Spaziergängern entdeckt worden war.
Danach zählt die Soko Parkplatz wieder 45 Beamte. Und das Geld für den Kopf des Phantoms wird von 150'000 auf 300'000 Euro erhöht. Frank Huber aber findet den Betrag noch immer zu klein, das grosse Schweigen werde damit wohl nicht gebrochen.
Vielleicht fehlen brauchbare Hinweise aber auch, weil die gesuchte Frau gar nicht als Frau gelesen wird:
Auch die Zeugen reden alle von einem Mann, selbst die der Polizei längst bekannten neun Jugendlichen, die 2007 in ihre Schule in Saarbrücken eingestiegen sind, beteuern bei einer erneuten Befragung, eine Frau sei beim Einbruch nicht dabei gewesen.
Man jagt also eine Serientäterin, die nicht nur aussieht wie ein Mann, sondern auch so zu handeln scheint. Überprüft werden darum inzwischen auch Männer, man wolle sich nicht festlegen, um eine böse Überraschung zu vermeiden, sagt Hubers Kollege, Polizeisprecher Rainer Köller.
Frank Huber sagt nie «Phantom» zum Phantom. Er sagt immer «UWP» oder einfach nur «sie». Denn «diese Person existiert, das gehört zu den wenigen Dingen, die wir sicher wissen», beteuert er.
Laut der Profiler, die in den Fall involviert sind, ist «sie» unberechenbar, brandgefährlich, gewalttätig und womöglich drogensüchtig. Sie lebe von Straftaten, schliesse sich dafür anderen Kriminellen an, sei sehr mobil, wenn sie sich auch vorzugsweise im südwestdeutschen Raum aufhalte. Zudem nächtige sie bevorzugt in Gartenhäusern und trinke aus schon geöffneten Flaschen.
Inzwischen ist ihre DNA an 40 verschiedenen Tatorten gesichert worden. Die Österreicher haben ihr Erbgut darum eingehender untersucht, als es in Deutschland zulässig ist. Dabei kam heraus, dass bestimmte Merkmale davon vor allem in Osteuropa aufträten.
Ihr Gesicht kennt dennoch niemand. Die Beamten gehen aber davon aus, dass ihr Bild sich in den Polizeicomputern befindet; weil aber ihr genetischer Fingerabdruck nicht mit erfasst worden sei, sei sie in den Verbrecherdateien nicht zu finden.
Huber hingegen lässt sich von all den Widrigkeiten dieses mysteriösen Falls nicht entmutigen und meint:
Wenige Tage später fliegt sie tatsächlich auf. Nur ein bisschen anders als erwartet.
Sicher geisterte es als Ahnung schon in manch einem Polizistenkopf herum. In den meisten aber spukte das Phantom bis zum Schluss. Ein Hirngespinst, das sich fest um alle Synapsen gewickelt hatte und bald ganz mit ihnen verwachsen war. Ein Tumor mit der Fähigkeit, die kriminalistische Logik ausser Kraft zu setzen.
Und nun wurde er ohne Narkose aus den Köpfen herausgeschnitten.
Ende September 2008 fand man im österreichischen Linz im Treppenhaus einer Disco die Leiche eines 21-jährigen Bosniers, den man zu Tode geprügelt hatte. Man vermutete, es handle sich um einen 2002 verschwundenen Asylbewerber, von dem man im Rahmen seines Asylverfahrens einen Fingerabdruck genommen hatte. An dem Abdruck klebten noch winzig kleine Reste Hautfett und Schweiss, die für einen DNA-Vergleich ausreichten. Das Ergebnis: Der Bosnier ist das Phantom. Die UWP. Sie.
Ungläubig starrten die österreichischen Laborspezialisten auf das Wattestäbchen mit der Probe. Dann griffen sie zu einem anderen Tupfer aus einer anderen Charge. Da war das Phantom wieder weg.
Jetzt war es gewiss. Die DNA gehörte nicht zu einer Serienkillerin. Bloss zu einer Serienarbeiterin, die Tausende Wattestäbchen abgepackt und sie dabei mit ihrem Erbgut verunreinigt hatte. Und jedes Mal, wenn ein Kriminalbeamter mit einem solchen Tupfer Proben von einem Tatort abrieb, war ihre DNA schon drauf.
Was für eine Blamage. Waren tatsächlich fünf Sonderkommissionen, sechs Staatsanwaltschaften in drei deutschen Bundesländern und Polizisten in Österreich und Frankreich über zwei Jahre lang einer nicht existenten Serienkillerin hinterhergejagt, weil jemand dreckige Stäbchen eingekauft hatte und das weder einem Kriminaltechniker noch einem Ermittler auffiel?
Volker Link, Leiter der Staatsanwaltschaft Heilbronn und der Mann, der den gigantischen ermittlungstechnischen Fehler vor den Medien eingestand, gab an, dass die Soko Parkplatz bereits im April 2008 eine Expertenkommission gebildet haben, um eine mögliche Spurenkontamination zu prüfen. Anlass war der Dreifachmord an den georgischen Autoverkäufern bei Heppenheim gewesen, der laut dem LKA Rheinland-Pfalz von ihrem V-Mann und dem von diesem für die Polizei beobachteten Somalier verübt worden war. Dass sich auch die Phantom-DNA im Tatauto befand, schien den Polizisten darum äusserst rätselhaft.
Und so habe man zunächst die Laborabläufe in den Landeskriminalämtern auf Fehlerquellen untersucht. Anschliessend wurden 300 Wattestäbchen aus der gleichen Bezugsquelle als sogenannte Leerproben geprüft, die aber keinerlei Verunreinigung zeigten.
Unzählige andere aber waren offensichtlich mit der Phantom-DNA in Berührung gekommen. Und sie stammten alle aus der bayerischen Produktionsstätte der Firma Böhm Plastics in Tettau, welche zusammen mit dem in Baden-Württemberg ansässigen medizintechnischen Unternehmen Greiner Bio-One die betreffenden Wattetupfer hergestellt hat.
Die Schuld an dem Debakel wiesen beide Geschäftsführer aber entschieden zurück, denn:
Denn das sei es nicht. Und dies gehe auch eindeutig aus der Gebrauchsanweisung hervor. Die Baumwolle gehe im Lauf des Produktionsprozesses durch viele Hände. Die abschliessende Sterilisation des Abstrichbestecks mit ionisierenden Strahlen führe zu einem keimfreien, aber nicht unbedingt DNA-freien Produkt.
Und ebendiese DNA-Freiheit ihrer Wattestäbchen sei von Herstellerseite auch niemals garantiert worden, meinte Heinz Schmid.
Doch dann kommt raus, dass sie von der Greiner Bio-One doch garantiert wurde. Mittels eines Qualitätszertifikats, das eine österreichische Polizeidienststelle auf Bestellung erhielt. Ebenso seien den Wattestäbchen-Kartons an baden-württembergische Polizeidirektionen solche Papiere beigelegen.
Heisst: Die gelieferten Wattestäbchen sollten sehr wohl geeignet sein für molekularbiologische Untersuchungen, also auch zum Ziehen von DNS-Proben.
Doch Fakt ist auch: Sterile Wattestäbchen gibt es überhaupt nicht.
Es wurde also etwas garantiert, was nicht zu garantieren ist. Es wurde aber vor allem geglaubt. An die Unfehlbarkeit der DNA-Analyse – und zwar so unerschütterlich, dass Tatzusammenhänge hergestellt worden sind, die jeglicher Logik entbehren. Dass Fallanalytiker Dinge sagten wie: «Diese Frau widersetzt sich jedem Muster. Das habe ich noch nie erlebt», und dass die Phantom-DNA stets höher gewichtet wurde als die diversen Beteuerungen von Zeugen, Verdächtigen und bereits Überführten, dass keine Frau bei der Tat dabei gewesen sei.
Daten können auch lügen. Das heisst nicht, dass DNA-Proben als Beweismittel nichts taugen. Es sind zum Fehlerausschluss nur jederzeit mehrstufige Überprüfungsverfahren notwendig. Denn am Ende ist die Technik immer nur so gut wie die Menschen, die sie anwenden.
Schliesslich geht es um die richtige Interpretation der gesammelten Daten. Und hier, so scheint es, ist das passiert, was die Kognitionpsychologie «confirmation bias» nennt. Ein Bestätigungsfehler. Die Polizisten hatten eine Theorie im Kopf, die Theorie einer gewissenlosen Serienmörderin, und deuteten die ermittelten Informationen so, dass diese die Theorie bestätigten.
Ihr Phantom existierte. Es war bloss eine polnische Oma. Zumindest hat das die «Bild» unter Berufung auf Polizeikreise berichtet. Zum Zeitpunkt der Bekanntwerdung der Polizisten-Panne habe die 71-Jährige aber schon länger nicht mehr bei Böhm Plastics in Tettau Wattestäbchen verpackt – beziehungsweise verunreinigt. Inzwischen sei sie längst wieder nach Polen zurückgekehrt.
Immerhin, das mit ihrer osteuropäischen Herkunft hat gestimmt.