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Kriegs­ver­bre­chen in der Region Ossola – eine dunkle Zeit in Italien

Dieses Bild zeigt 45 Zivilisten in Verbania. Sie wurden am gleichen Tag, dem 20. Juni 1944, von Soldaten der SS-Polizei erschossen.
Dieses Bild zeigt 45 Zivilisten in Verbania. Sie wurden am gleichen Tag, dem 20. Juni 1944, von Soldaten der SS-Polizei erschossen.Bild: Casa della Resistenza Fondotoce / Ester Bucchi

Kriegs­ver­bre­chen vor den Toren der Schweiz

An der Südgrenze der Schweiz, in der Region Ossola, eskalierte die Gewalt zwischen 1943 und 1945. Was folgte waren zahlreiche Kriegsverbrechen und hunderte von Toten. Rückblick in eine dunkle Zeit.
27.07.2024, 17:27
Raphael Rues / Schweizerisches Nationalmuseum
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Was zwischen 1943 und 1945 an der Grenze zum Wallis und zum Tessin geschehen ist, hat eine Vorgeschichte, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Die Spirale der Gewalt in der Region begann mit dem Aufkommen des Faschismus. Der Marsch auf Rom Ende Oktober 1922 und die darauffolgende Ernennung von Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten durch König Viktor Emanuel III. setzten eine Spirale der Gewalt in Gang. Im Wesentlichen handelte es sich um eine totale Repression gegen sozialdemokratische und gemässigte politische Kreise. Die Glücklichsten werden inhaftiert, viele ins Exil nach Frankreich und in die Schweiz getrieben.

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König Viktor Emanuel III. (Mitte) und Benito Mussolini (rechts) 1923 in Rom.
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König Viktor Emanuel III. (Mitte) und Benito Mussolini (rechts) 1923 in Rom.Bild: Wikimedia

Alles änderte sich in der Region mit der Absetzung von Benito Mussolini am 25. Juli 1943 durch den sogenannten Antrag Ordine Grandi des gleichnamigen Senators Dino Grandi. Ein kurioser Aspekt: Als Mussolini das letzte Mal in die Schweiz einreiste und im November 1925 im alten Hafen von Brissago ankam, um an der Endphase der Locarno-Friedenskonferenz teilzunehmen, wurde er bei dieser Gelegenheit ausgerechnet von Dino Grandi selbst begleitet. Dieser war damals ein junger Unterminister, der sich um einige auswärtige Angelegenheiten kümmerte.

Die Absetzung Mussolinis und der Faschisten im Sommer 1943 in der Grenzregion zur Schweiz verlief in aller Stille. Es gab keine gewalttätigen Zwischenfälle und keine Abrechnung mit den Faschisten. Das änderte sich allerdings am 8. September 1943 mit der Ankündigung eines Waffenstillstands durch die Militärregierung von General Pietro Badoglio. Dieser schlecht geplante Waffenstillstand führte zu einem totalen Chaos. Rund 700’000 Soldaten der italienischen Armee wurden in wenigen Wochen gefangen genommen und von den Deutschen, die dies als Hochverrat betrachteten, umgehend ins Reich deportiert.

Unterzeichnung des Waffenstillstands 1943 in Cassibile, Sizilien.
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Unterzeichnung des Waffenstillstands 1943 in Cassibile, Sizilien.Bild: Wikimedia

Nun änderte sich die Situation schlagartig. Auch an der Grenze zur Schweiz. Es kam zu Repressalien und Kriegsverbrechen. Als Erste betroffen waren wohlhabende jüdische Familien, welche an die Ufer des Lago Maggiore geflohen waren. Die erste deutsche Einheit, welche in der Region Kriegsverbrechen beging, war ein Bataillon aus der SS-Panzerdivision Leibstandarte Adolf Hitler. Operativ gesehen handelte es sich um eine Einheit, welche in die Region zwischen Arona-Meina-Intra gebracht worden war, um sich dort neu zu sortieren. Das Bataillon hatte an der Ostfront in der Region Charkiw (heute Ukraine) während der berühmten Operation Zitadelle schwere Verluste erlitten.

Einige Offiziere des Bataillons, darunter auch Sepp Dietrich, ein früher Begleiter von Adolf Hitler, erkannten schnell, dass die Juden am Lago Maggiore grosse Summen bei sich hatten und traten sofort in Aktion, wobei sie innerhalb weniger Wochen mindestens 57 Juden töteten. Die Leichen wurden in Schulhöfen (Intra) verbrannt oder in den Lago Maggiore geworfen. Doch das Verhalten dieser Einheit wurde bald bekannt und weil sich die Lage an der Ostfront zunehmend verschlechterte, wurde das Bataillon zurück in den Osten verlegt.

Sepp Dietrich (Dritter von rechts) 1943 an der Ostfront.
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Sepp Dietrich (Dritter von rechts) 1943 an der Ostfront.Bild: Wikimedia

Nach dem Abzug der Deutschen stiegen die Angriffe der Partisanen im Ossolagebiet rasch an. Zwischen November 1943 und April 1945 befand sich die Region in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, der zahlreiche Opfer forderte.

Die Deutschen besetzen die Region zunächst mit der alten Zollgrenzschutztruppe. Sie erkannten jedoch schnell, dass eine besser ausgerüstete Truppe für den Kampf gegen die Partisanen notwendig ist. So kam es, dass die SS-Polizei im Januar 1944 zum ersten Mal zum Einsatz kam. Die Mitglieder dieser Truppe hatten an der Ostfront bereits Erfahrungen mit der Vernichtung von Zivilisten, Juden und in geringerem Masse auch von sowjetischen Partisanen gesammelt.

Die SS-Polizei führte am 11. Februar 1944 in Megolo (Val Toce) eine erste grosse Razzia gegen den Partisanen-Capitano Filippo Beltrami durch. Während des gesamten Frühjahrs 1944 gab es mehrere Operationen gegen Partisanen, welche immer nach dem gleichen Muster verliefen: Partisanen zu töten, die wehrlose Bevölkerung zusammenzutreiben und die hauptsächlich männlichen Zivilisten ins Reich zu deportieren. Auch junge Zivilisten ab 15 Jahren wurden in die Arbeitslager nach Deutschland deportiert.

Partisanenführer Filippo Beltrami, aufgenommen vor 1944.
https://en.wikipedia.org/wiki/File:Filippo_Beltrami.jpg
Partisanenführer Filippo Beltrami, aufgenommen vor 1944.Bild: Wikimedia

Im Juni 1944, mit der Befreiung Roms und der Landung der Alliierten in der Normandie, begann sich die Spirale der Gewalt in der Region Ossola immer schneller zu drehen. Nördlich von Intra, im Val Grande, wurden zwischen dem 10. und dem 22. Juni 200 Partisanen und Zivilisten getötet. Die Täter dieser Verbrechen waren hauptsächlich SS-Polizisten.

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Niemand ist jemals für diese Verbrechen verurteilt worden. Die italienischen Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft wurden nach dem Krieg sehr schnell sistiert und verschwanden später im sogenannten Schrank der Schande. Zu schwer wogen wohl die wirtschaftlichen Interessen zwischen Italien und Deutschland.

Die deutschen Verbrechen gingen auch im August weiter. Dörfer wurden niedergebrannt, Menschen als Vergeltungsmassnahme hingerichtet und selbst alte Menschen wurden in die Reichsarbeitslager nach Deutschland deportiert.

Die Republik Ossola

Mit der Partisanenrepublik Ossola, die im September 1944 gegründet wurde, erlebten 80’000 Personen und 32 Gemeinden für kurze Zeit ein Leben in Freiheit. Die Partisanen schafften es, das Gebiet vom Simplon bis fast zum Lago Maggiore, für 40 Tage zu befreien und eine Regierung zu bilden. Ein erster demokratischer Akt im faschistischen Italien. 300 Faschisten wurden in Druogno (Valle Vigezzo) inhaftiert, aber keiner wurde getötet.

Doch die Republik währt nur kurz. Am 10. Oktober 1944 begann die deutsche Rückeroberung der Zona Libera Ossola. Die Partisanen wurden an zwei Seiten angegriffen und verloren innerhalb weniger Tage 200 Männer, die getötet und etwa 400, die nach Deutschland deportiert wurden.

Die Deutschen, unterstützt von italienischen Faschisten, schlugen mit aller Härte zu und machten auch vor der Schweizer Grenze nicht Halt. Es kam zu heiklen Situationen. Beispielweise in Bagni di Craveggia, an der Grenze zum Onsernonetal, wo zwei Partisanen, die sich bereits auf Schweizer Boden befanden, von Faschisten tödlich verletzt wurden.

Aus dem Ossola geflüchtete Partisanen treffen am 19. Oktober 1944 in Spruga ein.
Aus dem Ossola geflüchtete Partisanen treffen am 19. Oktober 1944 in Spruga ein.Bild: Archivio Tullio Bernasconi

Nach dem Ende der Partisanenrepublik Ossola nahmen die Repressionen der Besatzer massiv zu. Vergeltungsaktionen wie jene in der Ortschaft Trarego, wo im Februar 1945 neun Partisanen hingerichtet wurden, waren keine Seltenheit. Die meisten dieser Aktionen gingen auf das Konto der Schwarzen Brigaden, einer extremistischen paramilitärischen Kampforganisation der Italienischen Sozialrepublik. Niemand wurde verschont. Zu den Opfern gehörten Frauen, Zivilisten und sogar Priester wie Giuseppe Rossi aus dem abgelegenen Dorf Calasca Castiglione.

Anders war das Verhalten der Deutschen. Sie hatten das bevorstehende Ende längst erkannt und sich in den letzten Kriegsmonaten mehrheitlich in ihren Garnisonen eingeschlossen.

Alessandro Pavolini (Mitte), Gründer der Schwarzen Brigaden, bei einer Inspektion 1944 in Mailand.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alessandro_Pavolini_e_Vincenzo_Costa_passano_in_rassegna_gli_ ...
Alessandro Pavolini (Mitte), Gründer der Schwarzen Brigaden, bei einer Inspektion 1944 in Mailand.Bild: Wikimedia

In diesem «Bürgerkrieg» in der Ossolaregion wurden nicht nur von den Besatzern Verbrechen begangen, sondern auch von den Partisanen. Beispielsweise gegen faschistische Militäreinheiten oder Zivilisten. Im Juli 1944 griffen Partisanen einen Zug an, der nach Domodossola fuhr. Dabei töteten sie 17 junge Männer, die in diesen Konflikt keine Rolle gespielt hatten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs häuften sich ausserdem die Vergeltungsaktionen gegen Mitglieder der Schwarzen Brigaden.

Die Bilanz des rund 20 Monate dauernden Konflikts in der Region Ossola-Lago Maggiore ist tragisch: 1200 tote Partisanen, 300 ermordete Zivilisten und mindestens 400 deportierte Menschen. 300 von ihnen kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Meist in einem sehr schlechten körperlichen und psychischen Zustand. Auf auf der Seite der Faschisten gab es rund 400 Todesopfer. Die meisten von ihnen starben gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Abrechnungsaktionen. Die Zahl der im Ossola getöteten Deutschen ist laut verschiedenen Archivdokumenten sehr gering und belief sich auf höchstens 100 Soldaten.

Eine finanzielle Entschädigung von deutscher Seite gab es nie. Es gab zwei Prozesse gegen die Leibstandarte in Deutschland und Österreich, die aber mit einem Freispruch für die Angeklagten Offiziere und Soldaten endeten.

Gedenktag
Am 28. Juli 2024 um 10.30 Uhr findet in Bagni di Craveggia-Spruga eine Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Ereignisse vom 18. Oktober 1944 statt, wo eine der massivsten Grenzverletzungen im Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Weitere Informationen dazu gibt es hier.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Kriegs­ver­bre­chen vor den Toren der Schweiz» erschien am 23. Juli.
blog.nationalmuseum.ch/2024/07/kriegsverbrechen-vor-den-toren-der-schweiz
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71 Kommentare
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flausch
27.07.2024 18:23registriert Februar 2017
Wir dürfen die, die für unsere Freiheit ihr leben gaben nicht vergessen. Und noch viel wichtiger, wir müssen alles Menschenmögliche dafür tun um zu verhindern das menschenfeindliche Rechtsextreme und Faschisten uns abermals ins selbe Unheil stürzen.
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Amseilruntertaucher
27.07.2024 22:42registriert August 2021
Die letzten 2 Wochen haben wir mit unseren Jungs die Invasionsküste von Honfleur bis hinüber nach Brest und Quiberon besichtigt und etwas Geschichtsunterricht zu Gemüte geführt.
Die Ehre gehört allen, die unseren Arsch und unsere Freiheit gerettet haben! Herzlichen Dank und auf nie Vergessen!
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Krasse Siech
27.07.2024 18:06registriert Dezember 2023
Off Topic: 1933 verbündeten sich in ZH sämtliche bürgerliche Parteien mit den Nazifröntlern, was aber scheiterte. Insbesondere die Luzerner Liberalen oder die Basler National Zeitung opponierten dagegen. Eigentlich stimmt es ja heute noch: 99% der Rechtsextremen im Raum ZH bezeichnen sich als "Liberale". Der Hass mancher Basler auf ZH hatte nicht zuletzt mit diesen unglaublichen Vorgängen zu tun.
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