Wissen
Interview

Gender-Expertin: «Auch Männer werden in der Medizin vernachlässigt»

Gender-Expertin: «Auch Männer werden in der Medizin vernachlässigt»

Frauen reagieren auf Medikamente anders als Männer, auch orientieren sich Geräte und Therapien häufig an der männlichen Norm. Im Interview erklärt US-Professorin Londa Schiebinger, wieso auch Männer von der Gender-Forschung profitieren und inwiefern ihr Bereich unter der Politik von Donald Trump leidet.
02.11.2025, 20:3402.11.2025, 20:34
Anna Wanner / ch media
Une gelule de medicament est photographiee lors d'une visite du laboratoire de production du medicament de transfert microbiote fecal (TMF) ce lundi 27 janvier 2025 au Centre hospitalier universi ...
Wenn Medikamente nur bei Probanden eines Geschlechts erforscht wird, kann das teuer werden. (Symbolbild)Bild: KEYSTONE

Londa Schiebinger erforscht seit Jahren, wie der Einbezug des Geschlechts in der Forschung die Ergebnisse beeinflusst. Gerade in der Medizin macht es einen Unterschied, ob Frauen an neuen Therapien mitforschen und ob die Differenzen zum männlichen Körper anerkannt werden. Die Amerikanerin weiss, wie es um die Gesundheit der Frauen steht. Und sie erklärt, wo die Schweiz Vorreiterin ist. Wir treffen die Professorin in Bern.

Frau Schiebinger, bis 1993 war das medizinische Wissen über Frauen mangelhaft. Sie wurden systematisch von klinischen Studien ausgeschlossen, unter anderem wegen des hormonellen Zyklus, der das Wohlbefinden der Frau beeinflusst. Was ist seither passiert?
Londa Schiebinger: Frauen wurden nach 1993 in Studien einbezogen, weil man gemerkt hat, dass viele Medikamente bei Frauen nicht oder anders wirken. Im Jahr 2001 stellte die US-Regierung fest, dass von zehn Medikamenten, die innert drei Jahren wegen Gesundheitsrisiken vom Markt genommen wurden, acht für die Frauen gefährlicher waren als für Männer. Das war ein Wendepunkt.

Was hat sich geändert?
Die Forschung begann, sowohl männliche als auch weibliche Mäuse in Labortests einzusetzen, und später auch Männer und Frauen in klinischen Studien. So konnten Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten verbessert werden.

Londa Schiebinger
Die 73-Jährige ist Wissenschaftshistorikerin und hat eine Professur an der renommierten Stanford University in Kalifornien, USA. Schiebingers Arbeit «Gendered Innovation» widmet sich dem positiven Einfluss des Geschlechts auf Forschung. Sie leitet daraus drei «Fixes» ab, Korrekturen des heutigen Systems. Erstens will Schiebinger mehr Frauen und unterrepräsentierte Gruppen in Wissenschaft, Medizin und Technik bringen, weil sie in ihrer Arbeit nachweisen kann, dass gemischte Forschungsteams bessere Resultate erzielen. Der zweite «Fix» gilt den Institutionen, um unbewusste Vorurteile und kulturelle Muster zu durchbrechen. Drittens verlangt sie: «Fix the Knowledge». Es geht darum, das Wissen, das Universitäten und medizinische Einrichtungen erzeugen, zu hinterfragen und zu verbessern. (wan)
infobox image
Bild: zvg

Sie sagen, acht von zehn Medikamenten gefährdeten die Frauen mehr? Ist das allgemein bekannt?
Das ist wirklich enorm. Ich glaube nicht, dass das den meisten Menschen bewusst ist. Und selbst wenn: Was kann man tun, wenn ein Medikament wissenschaftlich nicht ausreichend getestet wurde? Wir haben kaum eine andere Wahl, wir müssen der Forschung vertrauen. Dafür bietet die US-Arzneimittelbehörde FDA inzwischen eine Website an, auf der man nachsehen kann, welche Gruppen in klinischen Studien einbezogen wurden.

Und was findet man dort?
Vieles ist nicht ideal. So wurden in den USA bei Medikamententests praktisch nie Menschen über 65 Jahre einbezogen. Wer aber nimmt die meisten Medikamente? Menschen über 65! Das zeigt, dass viele Testverfahren einfach nicht sinnvoll konzipiert sind.

Das Problem der «männlichen Norm» ist seit 20 Jahren bekannt. Hat sich seitdem viel verändert?
Ja, es hat sich einiges getan – besonders in der Forschung. Ein gutes Beispiel ist der Herzinfarkt. Die allgemein bekannten Symptome gelten nur für Männer. Frauen zeigen oft andere Anzeichen. Dadurch kamen Frauen im Schnitt 15 Minuten später in die Notaufnahme – was bei einem Herzinfarkt lebensgefährlich sein kann. Oft erkennen sie selbst nicht, dass sie einen Infarkt haben.

Was sind typische Symptome bei Frauen?
Nicht unbedingt der klassische Brustschmerz oder Schmerz im linken Arm. Es kann auch Erschöpfung, Übelkeit oder Magenbeschwerden sein. In den USA gab es dazu eine grosse Aufklärungskampagne, die Leben gerettet hat. Natürlich bleibt beim Herzinfarkt Vorbeugen am am wichtigsten – durch gesunde Ernährung und Bewegung.

Medikamente, Operationsbesteck oder künstliche Herzen: Die Technologie ist immer noch auf männliche Normen ausgerichtet.
Es gibt mehr Bewusstsein für diese Problematik, aber sie ist noch nicht verschwunden. Ich freue mich jedoch über die Entwicklungen im Bereich «Femtech» – also Technologien, die speziell auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet sind. Einige meiner Studierenden haben das Thema in meinem Kurs entdeckt und ein Startup gegründet: Evvy.

Was macht Evvy?
Wenn eine Frau Beschwerden im Intimbereich hat und beim Arzt nichts festgestellt wird, wird ihr oft gesagt: «Da ist nichts.» Aber das stimmt oft nicht. Evvy untersucht das vaginale Mikrobiom und kann helfen, es ins Gleichgewicht zu bringen. Das ist ein Beispiel dafür, wie ernst Frauenbeschwerden heute genommen werden – gerade wenn die klassische Medizin keine Lösung bietet.

Gibt es weitere Beispiele für frauengerechte Technologien?
Ja, zum Beispiel aus Japan. Haben Sie schon einmal eine Mammografie gemacht?

Nein.
Mammografien sind sehr schmerzhaft – die Brust wird stark zusammengedrückt. Das Vorgehen hätte vermutlich keine Frau erfunden. In Japan hat man deshalb eine neue Methode entwickelt: Die Brust wird in ein warmes Wasserbad gelegt und dort gescannt – ganz ohne Quetschen.

Sie wirken begeistert.
Ja, das bin ich. Es tut sich viel – gerade weil viele männliche Ärzte bestimmte Erfahrungen selbst nie gemacht haben. Jetzt entstehen Innovationen, die lange überfällig waren. Wenn wir über Gender-Medizin sprechen, geht es nicht nur um Frauen. Auch Männer werden vernachlässigt – zum Beispiel beim Thema Osteoporose.

Wie das?
Osteoporose gilt als «Frauenkrankheit», weil Frauen früher und häufiger daran erkranken – etwa ab 65. Männer sind meist erst ab 75 betroffen und werden oft nicht diagnostiziert oder richtig behandelt. Auch sie brauchen gezielte Therapien. Geschlechtergerechte Medizin betrifft alle.

Warum dauert es so lange, solche Erkenntnisse in die Forschung zu integrieren – zum Beispiel bei Tierversuchen?
Das hat mit Finanzierung zu tun und mit der Ausbildung. Deshalb freue ich mich sehr, dass Schweizer Universitäten diese Inhalte in ihre medizinische Lehre aufnehmen wollen. An Stanford sind wir nicht so weit. Es gibt nur wenige spezielle Kurse zum Thema Gender-Medizin. Dabei sollten Unterschiede zum Beispiel beim Herzen oder den Nieren systematisch in die Ausbildung integriert werden. Nur so kommen wir weiter. Und wenn die Schweiz hier Vorreiterin ist, färbt das hoffentlich auf andere ab.

Regulierungen für klinische Studien wären doch noch einfacher umzusetzen – das Wissen ist ja da. Warum zögert die Politik?
Ich beschäftige mich nicht intensiv mit der Industrie, aber die FDA achtet inzwischen mehr auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Und wenn die Behörden das tun, muss auch die Pharmaindustrie reagieren. Regulierung ist wichtig, denn als Konsumentinnen und Konsumenten können wir nicht einfach «Nein» sagen – wir sind auf Medikamente angewiesen.

Politische Entscheidungsträger spielen also eine zentrale Rolle für die Zukunft der Frauengesundheit. Sehen Sie einen Rückschritt angesichts autoritärer Tendenzen in vielen Ländern?
Oh ja – vor allem in den USA. Unter Trump wurde vieles zurückgedreht. Er hat das Wort «Gender» aus allen Datenbanken gestrichen und einfach durch «Sex» ersetzt – ohne die Bedeutung zu prüfen. Viele Programme für Frauengesundheit wurden gestrichen. Auch das NIH (National Institutes of Health) wurde gekürzt. Es ist ein Angriff auf die Wissenschaft. Vieles, was gut war, wurde einfach abgeschafft.

Können Sie Ihre Forschung trotzdem fortsetzen?
Ich selbst arbeite an einer privaten Universität und bin bisher nicht betroffen. Aber eine ehemalige Studentin von mir an Harvard musste ihr Gender-Labor schliessen und ihre Mitarbeitenden entlassen. Sie arbeitet jetzt alleine weiter. Trump hat Harvard gezielt angegriffen. Das zeigt: Es macht einen grossen Unterschied, wer an der Macht ist. Wir müssen wählen gehen. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
96 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Sakara
02.11.2025 21:03registriert Mai 2024
Arbeite selber als Arzt, lange an einem Unispital. Ich habe viele Patienten und Patientinnenin Studien eingeschlossen. Was die Dame sagt stimmt. Was sie weglässt: Frauen nehmen weniger gerne an Studien teil. Ich (und viele Kolleginnen und Kollegen) nehmen sie als besorgter war, die gerade bei Therapie Studien eben kein Risiko eingehen wollen. Das ist völlig legitim - erklärt aber auch einen Teil der weiblichen Untervertretung. Proband*in in einer Studie zu sein ist ein ziemlicher Aufwand - und ein gewisses Risiko. Man könnte den Männern auchbdankbar sein, dass sie das häufiger machen...
7427
Melden
Zum Kommentar
96
840'000 Menschen in der Schweiz können schlecht lesen und rechnen
15 Prozent der Schweizer Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren haben Mühe beim Lesen, Rechnen und Problemlösen ohne direkte Handlungsanweisung. Das sind etwa 844'000 Menschen. Tendenziell verdienen sie weniger und sind seltener erwerbstätig als die Gesamtbevölkerung.
Zur Story