Sie waren Astronautin und sind heute Künstlerin. Wie kam es dazu?
Nicole Stott: Kunst war immer mein Hobby. Seit ich die NASA verlassen habe, bin ich ausschliesslich damit beschäftigt. Kunst ist ein universelles Kommunikationsmittel, mit dem wir Menschen erreichen können, an die wir sonst nicht herankommen. Wir können ihnen die Raumfahrt und ihren Sinn näher bringen. Zum Beispiel die Internationale Raumstation ISS, in der 15 Länder seit mehr als 20 Jahren friedlich zusammenarbeiten, um das Leben auf der Erde zu verbessern. Es ist ein wundervolles Beispiel, wie wir auf dem Raumschiff Erde zusammenleben sollten (lacht).
Diese Botschaft wollen Sie am Starmus-Festival in Zürich vermitteln?
Durch meine Aufenthalte im All habe ich gelernt, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann, gerade wenn man sehr komplexe Dinge erledigen muss. Und ich habe drei sehr einfache Erkenntnisse gewonnen: Wir leben zusammen auf einem Planeten, sind alles Erdlinge, und die einzige Grenze, auf die es wirklich ankommt, ist die dünne blaue Schicht der Atmosphäre, die uns umgibt. Ich möchte, dass die Menschen täglich darüber nachdenken, wie ich es jeden Tag tue, seit ich im Weltraum war.
Am Starmus wird der 50. Jahrestag der ersten Landung auf dem Mond am 20. Juli 1969 gefeiert. Können Sie sich an diesen «gewaltigen Sprung für die Menschheit» erinnern?
Ich war knapp sieben Jahre alt. Aber meine Eltern waren sehr interessiert an der Fliegerei, besonders mein Vater. Deshalb war er auch begeistert von der Raumfahrt und der Mondlandung. An jenem Tag sass ich mit meinen Eltern und meiner ein Jahr jüngeren Schwester vor dem Schwarzweiss-Fernseher. Es dauerte Stunden von der Landung bis zum ersten Schritt auf dem Mond, vom Nachmittag bis spät in die Nacht. Ich erinnere mich, wie ich vor dem Fernseher ein Käsesandwich ass (lacht). Später gingen wir hinaus und schauten hoch zum Mond. Mein Vater sagte nur: «Dort oben sind jetzt Menschen.» Für dieses Erlebnis bin ich meinen Eltern sehr dankbar. Was ist mit Ihnen?
An die erste Landung erinnere ich mich nicht. Aber spätere Mondmissionen habe ich ausgiebig verfolgt. Die körnigen Schwarzweiss-Bilder vergisst man nie.
Die Mondlandungen hatten einen sehr positiven Einfluss auf alle, die sie irgendwie mitverfolgen konnten. Sie machen Hoffnungen für die Zukunft, denn die Flüge zum Mond haben gezeigt, dass wir komplexe und wichtige Dinge vollbringen können, wenn wir nur wollen.
Hat Sie diese Erfahrung motiviert, selber Astronautin zu werden?
Ich war sehr beeindruckt und habe von meinem Vater die Liebe zur Fliegerei geerbt. Dies brachte mich dazu, Luftfahrttechnik zu studieren. Ich hielt es jedoch für unmöglich, selber Astronautin zu werden, auch nachdem ich meinen ersten Job bei der NASA angetreten hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man ausgerechnet mich dafür auswählen könnte (lacht).
Warum nicht?
Ich fand den Job grossartig und hätte ihn gerne gemacht, dachte jedoch, dass er anderen, speziellen Leuten vorbehalten ist. Warum sollte man mich nehmen? Ich arbeitete rund zehn Jahre als Ingenieurin für die NASA im Kennedy Space Center in Florida und war damit beschäftigt, die Raumfähren startklar zu machen. Damals stellte ich fest, dass ein Astronaut zu 99,X Prozent gar nicht im Weltraum arbeitet, sondern hier auf der Erde. Und 80 Prozent entsprachen dem, was ich als NASA-Ingenieurin machte. Da habe ich mir gesagt, ich könnte mich wenigstens mal bewerben.
Sie haben es einfach versucht.
Ich hätte es kaum gemacht ohne Rücksprache mit einigen Leuten, die ich als meine Förderer betrachtete. Alle sagten mir: Nikki, nimm einen Stift und fülle den Antrag aus! Es ist unglaublich, wie einfach wir uns selbst sabotieren können. Wir hinterfragen uns und machen uns selber klein, statt es zu versuchen. Ich danke diesen Leuten jedes Mal, wenn ich ihnen begegne.
Am Ende sind Sie zweimal ins All geflogen und haben mehr als 100 Tage auf der ISS verbracht.
Nach meinem ersten Antrag konnte ich ein Bewerbungsgespräch führen, wurde aber nicht genommen. Das war enttäuschend, allerdings hatte ich nichts anderes erwartet. Ich erhielt dafür eine Anstellung am Johnson Space Center in Houston. Ich konnte das Shuttle-Trainingsflugzeug fliegen, mit dem Astronauten lernten, die Raumfähre zu landen. Das war ein cooler Job, bei dem ich viel gelernt habe. Zwei Jahre später bewarb ich mich erneut und wurde genommen. Nachträglich habe ich realisiert, dass die NASA mich mit dem alternativen Angebot genauer anschauen wollte. Der Typ, der den Job nach mir erhielt, wurde drei Jahre später ebenfalls als Astronaut ausgewählt.
Ihr erster Raumflug fand 2009 statt. Viele Menschen, die im All waren, erklärten später, der Anblick der Erde von oben habe spirituelle Gefühle ausgelöst. War das bei Ihnen auch der Fall?
Spiritualität ist ein sehr weites Feld. Ich war immer ein gläubiger, christlicher Mensch. Der Weltraum hat mich nicht dorthin geführt, ich war schon dort. Trotzdem ist man auf den Anblick der Erde von oben überhaupt nicht vorbereitet. Man realisiert so richtig, dass wir auf einem Planeten im All leben, obwohl man das eigentlich längst weiss. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass alles auf der Erde miteinander verbunden ist, die Menschen, die Dinge. Wir teilen diesen Planeten.
Gab es dafür ein spezielles Erlebnis?
Der eigentliche Augenöffner war der Anblick von Stürmen in der Nacht. Das war gewaltig. Ich bin in Florida aufgewachsen und war mir Stürme gewohnt. Sie waren einfach da. Wenn sie weg waren, waren sie weg. Dann schaut man aus dem All hinunter und sieht die Blitze. Es ist ein umwerfendes Erlebnis, einfach atemberaubend. Vor allem realisiert man, dass die Stürme nicht nur über einem Ort stattfinden. Sie verbreiten sich, und die Blitze erinnerten mich an Neuronen im Gehirn. Da wurde mir klar, dass alles zusammenhängt. Das ist eine ziemlich spirituelle Erfahrung (lacht).
Hat es Sie zu Ihrer künstlerischen Arbeit motiviert?
Ich war schon immer ein wenig arty-craftsy, wie meine Mutter es genannt hat. Ich habe gerne gemalt. Vor dem ersten Raumflug habe ich vor allem auf die technischen Aspekte geachtet, die Checklisten und die Aufgaben, die zu erledigen waren. Ein Mitglied meiner Bodencrew hat mich daran erinnert, dass ich mehr als 100 Tage auf der ISS verbringen würde und mir überlegen sollte, was ich in meiner Freizeit machen wollte. Die hat man tatsächlich. Also habe ich ein kleines Set mit Wasserfarben mitgenommen und das Bild mit der Welle gemalt. Ich bin sehr glücklich darüber, denn das Bild zeigt die menschliche Seite der Raumfahrt, über die man zu selten nachdenkt.
Wie würden Sie Ihre Kunst beschreiben?
Sie ist in erster Linie experimentell (lacht). Ich hatte nie eine formelle Ausbildung und malte einzig zum Spass, wobei ich mit allerlei Dingen experimentiert und meine Erfahrungen verarbeitet habe, nicht zuletzt den Anblick der Erde aus dem All. Neben Gemälden fabriziere ich auch Schmuck. Aber die wichtigste Kunst ist gar nicht meine eigene.
Sondern?
Ich wurde von einem anderen Künstler eingeladen, der ein Projekt für Kunst und Medizin in einem Spital in Houston ins Leben gerufen hatte. Er wollte etwas in Zusammenhang mit der Raumfahrt machen. Daraus entstand die Idee, dass krebskranke Kinder Kunstwerke machen sollten, die vom darauf spezialisierten Hersteller zu Raumanzügen verarbeitet wurden. Einige konnten wir sogar zur ISS und wieder zurück schicken. Heute beteiligen sich mehr als 30 Länder an diesem Programm. Wir machen nicht nur Raumanzüge, sondern auch Grossformate und elektronische Kompilationen der Kinderkunst. Bei diesem Projekt kommt alles zusammen, was mir wichtig ist.
Wie meinen Sie das?
Vielleicht bin ich nur in den Weltraum geflogen, um das machen zu können. Es ist grossartig, die Kinder aus allen Ecken der Welt zusammenzubringen. Das führt mich zurück zu den drei simplen Erkenntnissen: Wir leben auf einem Planeten, als Erdlinge unter der dünnen Atmosphäre. Diese Kinder verstehen in einem sehr jungen Alter, dass sie die Crew auf dem Raumschiff Erde sind. Sie erwerben einen Sinn für Zusammenarbeit, der uns vielleicht versagt wurde. Die Kinder müssen Dinge durchmachen, die man niemanden zumuten möchte. Aber sie verstehen, dass sie und ihre Kunst Teil von etwas Grösserem sind. Das inspiriert mich unglaublich.
Engagieren Sie sich deshalb für Umweltanliegen wie Klimaschutz und den Kampf gegen Plastik in den Weltmeeren?
Wir arbeiten gerade an einem neuen Raumzug mit der Bezeichnung «Exploration». Er soll zum Botschafter werden für das Raumschiff Erde. Die Kinder machen Zeichnungen mit Bezug zur Atmosphäre, die eine Art Raumanzug für uns alle ist. Einige zeichnen Autos, aber das macht nichts (lacht). Sie sollen darüber nachdenken, dass sie den Planeten mit allem teilen, Tieren, Bäumen, der gesamten Natur. Je früher die Kinder das erkennen, umso behutsamer gehen sie damit um.
Verfolgen Sie noch andere Projekte mit Bezug zur Umwelt?
Ich schreibe gerade ein Buch. Eigentlich wollte ich nie meine Memoiren als Astronautin verfassen. Aber ich erinnerte mich an die drei Erkenntnisse und fand, ich müsste den Menschen näher bringen, was dieser Planet für uns bedeutet. Das betrifft nicht zuletzt die friedliche Zusammenarbeit von Menschen aus unterschiedlichen Ländern. In der Raumstation machen wir genau das, worauf wir auf der Erde achten sollten: Den sorgfältigen Umgang mit der Luft, die wir atmen, und mit sauberem Wasser. Die Produktion von Elektrizität und die Entsorgung der Abfälle. Darüber möchte ich schreiben, und ich hoffe, dass die Leute sich davon inspirieren lassen.
Es gibt Pläne für eine Rückkehr zum Mond. Man spricht von einem neuen Wettlauf zwischen den USA und China. Was halten Sie davon?
Wettläufe hat es immer gegeben, sie motivieren die Menschen. Es ist wichtig, dass sich mehr Länder an der Erforschung des Weltraums beteiligen. Ich bin begeistert, dass wir über eine Rückkehr zum Mond und eine permanente Präsenz nachdenken. Es geht auch in diesem Fall darum, das Leben auf der Erde zu verbessern.
Gilt das auch, wenn wir vom Mond aus weiter fliegen wollen, etwa zum Mars?
Es kann sein, dass wir damit längerfristig unser Überleben sicherstellen wollen. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Erde verlassen. Mit einer permanenten Präsenz auf dem Mond können wir vielleicht industrielle Aktivitäten dorthin auslagern und die Erde in gewissen Bereichen entlasten, etwa bei der Energieerzeugung oder der Herstellung von Nahrungsmitteln.
Mich würde noch interessieren, wie es geführt wurde.
Die Erfahrungen von Nicole Stott umfassen zum einen – im wortwörtlichen Sinn – die Dimensionen der Raumfahrt und des Lebens auf der Erde.
Zum andern sowohl die Beziehung zur Erde als auch zu den einzelnen Menschen und zur Menschheit.
Man mag sich zurecht fragen, ob es nicht sinnvoller ist, die enormen Ressourcen in die Herausforderungen auf der Erde zu investieren.
Der Blick von aussen öffnet uns die Augen für unseren Planeten wie auch unser Zusammenleben.
Wir haben nur diesen einen Planeten.