Pozzuoli ist ein Ort, wo man die Gefahr riechen kann – nicht immer und nicht überall, es hängt von der Windrichtung ab.
Die Gefahr riecht nach Schwefel, und die beissenden Schwaden kommen aus der Solfatara, einem Vulkankrater mit einem Durchmesser von etwa 500 Metern am westlichen Ortseingang. Aus mehreren Öffnungen im Boden zischt dort mehr als hundert Grad heisser Schwefelwasserstoff in die Luft, vermischt mit CO2-Gasen und Wasserdampf.
Die Gesteinsbrocken rund um diese sogenannten Fumarolen sind gelb vom Schwefel. Die Solfatara von Pozzuoli ist seit 2017 aus Sicherheitsgründen geschlossen, nachdem sich dort ein tragischer Unfall ereignet hat: Ein elfjähriger Junge, sein Vater und seine Mutter wurden beim Besuch des Areals von einem Erdloch verschluckt, das sich plötzlich unter ihren Füssen aufgetan hatte. Die drei wurden vor den Augen des zweiten, erst siebenjährigen Sohnes von den vulkanischen Gasen verbrüht und erstickt.
Pozzuoli, nur etwa 15 Kilometer westlich von der Millionenstadt Neapel gelegen, ist in Italien normalerweise vor allem als Heimatstadt von Sophia Loren bekannt, der berühmtesten aller italienischen Schauspiel-Diven.
Doch seit einigen Monaten macht die 80'000 Einwohner zählende Hafen- und Touristenstadt Schlagzeilen wegen des Supervulkans, der unter den Füssen der Bewohner schlummert. Pozzuoli steht mitten in den Phlegräischen Feldern, einem riesigen Vulkankessel (auch «Caldera» genannt) mit etwa 150 Kilometern Durchmesser. Wegen des ungeheuren Drucks im vulkanischen Untergrund hebt sich der Boden immer weiter an, seit dem Jahr 2006 bereits um 2 Meter.
Die Bewohnerinnen und Bewohner spüren dies an den vielen, wenn auch bisher noch nicht sehr heftigen Erdbeben, die das Gebiet pausenlos erschüttern. «Bradisismo» nennt man in Italien das Phänomen, auf Deutsch «Schwarm-Erdbeben».
Am eindrücklichsten lässt sich die Anhebung der Erdoberfläche im Hafen von Pozzuoli beobachten: Die Hafenmauer ragt bereits rund drei Meter aus dem Wasser, während der Hafen selber so seicht geworden ist, dass an einigen Stellen bereits der sandige Meeresboden aus dem Wasser auftaucht. Dort, wo die Fischer ihre Boote festmachen, ist das Wasser zum Teil nur noch einige Dutzend Zentimeter tief.
«Wenn das so weitergeht, wird man Fahrrinnen ausbaggern müssen, um den Hafen überhaupt noch benutzen zu können», betont der Fischer Bruno, der auf seinem Boot gerade die Netze ausbessert. Und: «Früher konnte ich die Kisten mit dem Tagesfang auf Augenhöhe an die Fischhändler auf der Hafenmauer reichen. Heute muss ich sie mühsam von weit unten hinauf hieven.»
Ob das «so weitergeht» und wie gross die Gefahr einer verheerenden Eruption des Supervulkans ist: Das ist die grosse Frage, welche die Bewohner der Campi Flegrei, der «brennenden Felder», derzeit beschäftigt.
Der Vulkan-Kessel wird mit einem dichten Netz von Messstationen überwacht; sie übermitteln die Bodentemperatur, die Konzentration von vulkanischen Gasen, die Erschütterungen des Bodens und andere Werte laufend an die Zentrale des nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV). Hinzu kommt die millimetergenaue Messung der Bodenhöhe mit GPS-Satelliten.
Bis vor kurzem gingen die Wissenschafter des INGV davon aus, dass für die Anhebung des Bodens bloss vulkanische Gase und Wasserdampf, nicht aber aufsteigendes Magma verantwortlich sei. Das war einigermassen beruhigend gewesen. Neue Untersuchungen haben nun aber Zweifel an dieser Lagebeurteilung aufkommen lassen.
Die nationale «Kommission Grossrisiken» des Zivilschutzes erklärte Ende Oktober, dass sich die Hinweise verstärkt hätten, wonach eben doch Magma aus der in sieben Kilometern Tiefe liegenden Magmakammer aufgestiegen sei – bis auf vier Kilometer unter der Erdoberfläche.
Die neue «Schock-Studie», wie sie von den italienischen Medien bezeichnet wurde, hat die Behörden aufgeschreckt: Zivilschutz-Minister Nello Musumeci dachte laut darüber nach, die Gefahrenstufe für die Phlegräischen Felder von gelb auf orange zu erhöhen. Das hätte unter anderem zur Folge, dass Krankenhäuser, Gefängnisse und zum Teil auch Schulen vorsorglich evakuiert werden müssten.
Noch ist aber die Regierung von Giorgia Meloni vor einem solchen einschneidenden Entscheid zurückgeschreckt. Immerhin hat der Senat in Rom in der ersten Dezemberwoche das sogenannte «Campi-Flegrei-Dekret» gutgeheissen, dank dem 52 Millionen Euro für erste Vorkehrungen zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es in erster Linie um den «bradisismo», also die Sicherung von Gebäuden vor Erdbeben-Schäden.
In Pozzuoli haben etliche Gebäude inzwischen Risse in den Fassaden und Wänden; zum Teil ist auch der Putz abgefallen. Im Vergleich zu einer Eruption des Supervulkans sind dies freilich vernachlässigbare Schäden: Ein Ausbruch würde im weiten Umkreis alles zerstören; die Menschen in den Phlegräischen Feldern würden ihr Zuhause, ihre Arbeit, ihren Alltag verlieren, und Zehntausende von ihnen, die womöglich nicht rechtzeitig evakuiert werden könnten, auch ihr eigenes Leben.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Pozzuoli trösten sich mit dem Gedanken, dass die letzte grosse Eruption ungefähr 39'000 Jahre zurückliegt und dass es seither nur noch einmal einen Mini-Ausbruch gegeben hat, im Jahr 1538.
«Wir sind die Erdbeben und die permanente Gefahr eines Ausbruchs gewohnt», betont die Kunstmalerin Carmen Colonna: «Beim letzten ‹bradisismo› in den Achtzigerjahren war ich sieben Jahre alt. Es ist vorgekommen, dass mich meine Eltern in der Nacht wegen geweckt und ins Auto gebracht haben. Wir haben oft im Auto geschlafen, es war für uns Kinder wie ein Spiel.»
Jetzt habe sie selber zwei Kinder, 10 und 14 Jahre alt, und für sie sei es wieder gleich: «Sie haben keine Angst, für sie ist das normal», sagt die Künstlerin. die gerade zusammen mit einer Kollegin im Palazzo Migliaresi ihre Werke ausstellt.
Tatsächlich existieren die Städte in den Phlegräischen Feldern seit der Antike. Anders als Pompeji und Herculaneum sind sie nicht beim berühmten Vesuvausbruch im Jahr 79 nach Christus zerstört worden. Pozzuoli war zur Römerzeit während vieler Jahrhunderte der wichtigste Hafen des Weltreichs gewesen. In der Stadt steht noch heute die drittgrösste von den Römern je gebaute Arena: Das Amphitheater Flavio bot einst 40'000 Besuchern Platz. Das Kolosseum in Rom fasste nur 10'000 Zuschauer mehr.
Auch Guglielmo Misso lässt sich von der «Schock-Studie» nicht ins Bockshorn jagen. Der 36-jährige Ingenieur betont:
Seiner Meinung nach wird die Angst vor der Eruption von lokalen Politikern bewusst geschürt, weil diese Angst spekulative Geschäfte und Korruption begünstige: «Politiker und Bauherren erhalten aus Rom und Brüssel Millionenbeträge, um die von den Erdbeben beschädigten Häuser zu sanieren oder um Fluchtwege zu bauen.»
Bei den Häusern werde dann aber oft nur die Fassade saniert, im Innern blieben sie unbewohnbar. «Es wurde mit dem Bau von Strassen und Tunnels begonnen, die bis heute nicht fertig sind. Die Baustellen kann man heute noch besichtigen», schimpft Misso. Das viele Geld dafür sei irgendwo versickert.
Die erwähnten staatlichen Fluchtwege und Evakuierungspläne in den Phlegräischen Feldern sind ein Kapitel für sich. Zwar existieren Pläne aus den Achtzigerjahren, aber man muss kein Verkehrsingenieur sein, um zu erkennen, dass in diesem hügeligen Gebiet mit seinen engen und kurvenreichen Strassen die Evakuierung einer auf 480'000 Menschen angewachsenen Bevölkerung eine gewaltige Herausforderung darstellen würde.
Mindestens drei der im aktuellen Evakuierungsplan vorgesehenen Fluchtwege müssen laut dem Chef des nationalen Zivilschutzes, Fabrizio Curcio, erst noch gebaut oder fertiggestellt und etliche Strassen verbreitert werden.
Aber letztlich steht und fällt eine erfolgreiche Evakuierung ohnehin mit der Zeit, die zur Verfügung steht: Die aktuellen Pläne rechnen mit einer Vorwarnzeit von 72 Stunden, die für eine vollständige Evakuierung notwendig wäre. Prognosen für den genauen Zeitpunkt einer Eruption sind aber erfahrungsgemäss so gut wie unmöglich.
Das weiss auch Künstlerin Carmen Colonna - und trotzdem ist sie noch nie auf den Gedanken gekommen, Pozzuoli den Rücken zu kehren: «Das Risiko einer Super-Eruption gehört zu unserem Leben, es ist Teil des Spiels. Und es ist vielleicht der Preis, den wird dafür bezahlen, dass wir an einem so schönen Ort leben dürfen.» (bzbasel.ch)