«Maus», die zweiteilige Graphic Novel von Art Spiegelman über den Holocaust, wurde 1992 als erster Comic überhaupt mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Die «Geschichte eines Überlebenden», wie der Untertitel lautet, schildert den Holocaust aus Sicht von Spiegelmans Vater Wladek. Auch das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn sowie der Suizid der Mutter, die Auschwitz ebenfalls überlebte, aber daran zerbrach, sind Themen in der Graphic Novel.
«Maus» gilt als Meisterwerk. Dennoch gab es von Anfang an Kontroversen um diese Aufarbeitung des Holocausts. Insbesondere die Tiermetapher – so sind Juden als Mäuse, Deutsche als Katzen, Amerikaner als Hunde, Polen als Schweine dargestellt – führte zu Kritik, und in Polen kam es deswegen zu Bücherverbrennungen. Besonders im deutschen Sprachraum, wo Comics lange als Schund- oder Trivialliteratur galten, fand man zudem, ein Comic könne keine adäquate Darstellung des Holocausts sein.
Dies ist lange vorbei. Doch jetzt ist «Maus» erneut in die Schlagzeilen geraten. Schuld daran ist die Entscheidung einer Schulbehörde in McMinn County im US-Staat Tennessee, die Nutzung des Comics im Unterricht zu verbieten. Das zehnköpfige Gremium, das den Beschluss einstimmig fällte, taxierte insbesondere acht Schimpfwörter und eine Zeichnung von Spiegelmans Mutter nach ihrem Suizid in der Badewanne als anstössig.
In einer Stellungnahme nach ersten Protesten gegen ihr Vorgehen begründete die Schulbehörde den Beschluss mit «unnützer Verwendung von Obszönität und Nacktheit» sowie der «Darstellung von Gewalt und Suizid». «Maus» ist damit vom Lehrplan der achten Klasse in McMinn County verbannt.
School board issues statement about the removal of Maus. https://t.co/ftrt5woNxh pic.twitter.com/OdxYe29rAb
— Evan McMurry (@evanmcmurry) January 27, 2022
Spiegelman äusserte sich in einem Interview mit CNBC zum Vorgehen der Behörde in Tennessee. Der 73-jährige Autor zeigte sich «verblüfft» und sagte, Tennessee sei offensichtlich wahnsinnig: «Dort läuft etwas sehr, sehr schief.» Spiegelman, der sich selbst als «1st Amendment absolutist» bezeichnet, legt so grossen Wert auf Meinungsäusserungsfreiheit, dass er sogar Gesetze gegen Hate Speech ablehnt. Gegenüber CNN sagte er, die Mitglieder der Schulbehörde seien kurzsichtig in ihrem Fokus und hätten Angst davor gehabt, «Maus» als Teil des Lehrplans verteidigen zu müssen. Dies habe zu dieser Art von dümmlich kurzsichtiger Reaktion geführt.
Immerhin kann sich Spiegelman jetzt über eine gestiegene Nachfrage nach seinem Werk freuen: «Maus» erlebt derzeit einen Boom, selbst über die USA hinaus. Und das nationale Holocaust-Museum in Washington erklärte, Spiegelmans Graphic Novel habe eine vitale Rolle bei der Aufklärung über den Holocaust gespielt.
1/ Maus has played a vital role in educating about the Holocaust through sharing detailed and personal experiences of victims and survivors. On the eve of International #HolocaustRemembranceDay, it is more important than ever for students to learn this history.
— US Holocaust Museum (@HolocaustMuseum) January 27, 2022
Allerdings ist «Maus» keineswegs das einzige Werk, dessen Verwendung im Unterricht auf Widerspruch trifft. Immer wieder gibt es in den USA Vorstösse, um bestimmte Bücher aus dem Lehrplan zu streichen oder aus den Schulbibliotheken zu werfen. Die meisten gehen von Konservativen aus, die besonders im Bible Belt im Süden des Landes auf Unterstützung aus der Bevölkerung rechnen können.
Diesen Kreisen gilt selbst die «Harry-Potter»-Reihe als anstössig, da darin unter anderem Zauberei positiv dargestellt werde. Dieser Reihe gelten bisher denn auch absolut die meisten Verbotsanträge seit dem Jahr 2000. Meist sind es jedoch Bücher, die Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Anliegen der LGBTQ-Gemeinde zum Thema machen, die von konservativer Seite her unter Beschuss geraten.
Aber auch von Progressiven – etwa BLM-Aktivisten – gibt es zunehmend Bestrebungen, unliebsame Bücher entweder dem Zeitgeist anzupassen oder gleich ganz aus dem Lehrplan zu entfernen. Ironischerweise richten sich manche Verbotsanträge ausgerechnet gegen literarische Werke, die ihrerseits Rassismus verurteilen, etwa Mark Twains Klassiker «Huckleberry Finn» (1885).
2004 nahmen drei High Schools in Renton, einer Stadt im US-Staat Washington, das Werk aus dem Bestand, weil eine afroamerikanische Schülerin sich beklagt hatte, das Buch setze sie und ihre Kultur herab. Dabei ging es hauptsächlich um das Wort «Nigger», das im Original ständig vorkommt. 2011 ersetzte der Verlag NewSouth den umstrittenen Begriff in einer neuen Ausgabe durch «Slave». Gemeinsam scheint all diesen Zensurbestrebungen – seien sie nun konservativer oder progressiver Herkunft – ein gewisser puritanischer Eifer, der wenig auf Kontext achtet.
Die zahlreichen Versuche, ein unliebsames literarisches Werk entweder umzuschreiben oder ganz aus dem Verkehr zu ziehen, bleiben freilich nicht unwidersprochen. Die Vereinigung der amerikanischen Bibliotheken ALA, die sich dezidiert gegen Zensur ausspricht, nutzt die rund 500 Verbotsanträge gegen Bücher pro Jahr als Marketinginstrument und führt jeweils in der letzten Septemberwoche eine «Woche der verbotenen Bücher» durch. Zudem stellt die ALA jedes Jahr eine Liste der am meisten beanstandeten Bücher zusammen. Hier die Top Ten des Jahres 2020:
Zensurbestrebungen dieser Art erscheinen in einem europäischen Kontext oft als übertrieben. Die Debatte über die Anpassung von vermeintlich oder tatsächlich rassistischen und sexistischen Werken an die heutige Zeit ist jedoch längst auch in Europa angekommen. So sind Begriffe wie «Neger» oder «Zigeuner» aufgrund ihres diskriminierenden Charakters aus Kinderbuchklassikern wie «Pippi Langstrumpf» von Astrid Lindgren oder «Die kleine Hexe» von Otfried Preussler entfernt worden.
Selbst die von 1942 bis 1966 entstandenen Donald-Duck-Klassiker des Disney-Zeichners Carl Barks, die von Erika Fuchs kongenial ins Deutsche übertragen wurden, sind offenbar mit dem heutigen Zeitgeist nicht mehr vollständig kompatibel. So machte der Egmont-Ehapa-Verlag aus der Figur «Fridolin Freudenfett» (im Original «Porcmuscle J. Hamfat»), einem beleibten und gut gelaunten Schwein, plötzlich «Fridolin Freundlich».
Der Wiener Literaturwissenschaftler Achim Hölter räumt zwar in einem Kommentar in derstandard.de durchaus ein, dass ältere Comics manchmal Rassismus, Sexismus oder auch Homophobie enthalten, oft implizit, aber auch explizit. Gleichwohl sieht Hölter in der erwähnten Namensänderung und weiteren Eingriffen ein Problem. Die Texte von Menschen posthum nicht zu ändern, auch wenn die Zeiten sich ändern, sei eine anerkannte philologische Regel, stellt er fest. Wenn man sich der Dokumente nicht mehr sicher sein könne, werde es schwierig, die gewandelten Normen zu verhandeln. Problematisches Material könne zur Not kommentiert oder durch ein Vorwort erläutert werden.
Es ist natürlich klar dass Bücher die vor ca. 100 Jahren geschrieben werden gewisse Stereotypen beinhalten. Aber wenn man nur ansatzweise Gehirnzellen hat kann man ja nachschauen wann und wo jenes Buch geschrieben worden ist und so verstehen warum solche Bezeichnungen gemacht worden sind. Und manchmal erklären Einleitungen das ja auch ganz gut.
Typisch auch dass gewisse religiöse Kreise in den USA wieder Bücher verbieten wollen..aber dass es dieselben Kreise sind welche Redefreiheit so hochhalten, ist schon sehr suspekt.
Auch USA: was mir nicht gefällt, muss verboten werden.