Ein Drittel der Schweizer Landesfläche ist heute mit Wald bedeckt. Im 7. Jahrhundert, zur Zeit der alemannischen Besiedlung der heutigen Deutschschweiz, bestand noch der grösste Teil der heutigen Schweiz aus Urwald. Der Platz für Siedlungen, Acker- und Weideland musste dem teilweise dichten Wald durch Rodung mühsam abgetrotzt werden.
Dieser sogenannte Landesausbau war im Hochmittelalter, beschleunigt durch eine anhaltende Bevölkerungszunahme, am intensivsten und zog sich bis ins 17. Jahrhundert hin – die Siedlungen und Äcker und Weiden frassen sich immer weiter in die Wälder. Das Mittelland wurde kahler und kahler, und in der zweiten Hälfte des Jahrtausends wurden die Urwälder auch in den Voralpen- und Alpengebieten stark zurückgedrängt.
Der einschneidende mittelalterliche und frühneuzeitliche Landesausbau ist durch schriftliche Dokumente zwar nur punktuell belegt, aber unzählige Toponyme, also Orts- und vor allem Flurnamen zeugen davon: Allein von jenen, die auf Mittelhochdeutsch riuten «roden» zurückgehen, gibt es in der Deutschschweiz über 10'000, darunter viele Rüti, Rüttene und Grüt. Auch das legendäre Rütli am Urnersee (wörtlich «kleines Stück Rodungsland») gehört dazu – und noch immer ist es von Wald umgeben. Diese Rüti-Toponyme gelten als Zeugnisse der ersten Phase des Landesausbaus und sind in weiten Teilen des deutschen Sprachraums und in der ganzen Deutschschweiz vorzufinden.
Ebenfalls weit verbreitet sind Schwand, Schwendi und ähnliche Flur- und Ortsnamen – diese allerdings hauptsächlich im voralpinen und alpinen Raum. Sie repräsentieren demnach eine spätere Rodungsphase, was sich auch daran zeigt, dass sie weiter von den Hauptsiedlungen entfernt und höher liegen als Rüti-Fluren. Schwand, Schwendi u. ä. leiten sich von einer speziellen Art der Rodung ab, dem Schwenden. Dabei wird die Baumrinde in einem Streifen rund um den Stamm abgeschält, wodurch die Bäume verdorren und absterben.
Brandrodung war ebenfalls üblich. Flurnamen wie Brand, Sangi oder Sangere (von sengen «brennen») zeugen davon. Auch Toponyme wie Stocke, Stockere u. ä. verweisen – indirekt – auf Brandrodung. Nachdem die Bäume abgebrannt waren, blieben die Wurzelstöcke zunächst im Boden. Diese wurden später manchmal «ausgestockt», also ausgegraben, manchmal aber auch stehengelassen – als Weideland liess sich das Gelände auch so nutzen. Stocke, Stockere usw. beziehen sich auf ein Gebiet mit noch vorhandenen Wurzelstöcken.
Natürlich rodeten nicht nur die Deutschsprachigen. Im französischen Sprachgebiet geht etwa der häufige Flurname Essert(s) auf eine Rodung zurück; von lateinisch runcare «roden» leiten sich das italienische Toponym Ronco und das rätoromanische Runcs ab.
Wo der Wald erst im 19. oder 20. Jahrhundert unserem schier unstillbaren Durst nach Brennmaterial, Baustoff und Wohnraum weichen musste, entstanden keine Rodungsnamen mehr. Stattdessen wurden die alten, waldbezogenen Toponyme weitergeführt. Die Namen Hard, Loo, Holz und natürlich Wald verweisen allgemein auf einen (früheren) Wald. Toponyme wie Birch, Buech oder Tann zeugen von einem Bewuchs durch Birken, Buchen oder Tannen. Und Schachen bezeichnet ein kleines Gehölz, oft entlang eines Gewässers.
Ein Beispiel für einen jungen Flurnamen ist der Amerikanerblätz in Hägendorf SO. Dieses Landstück heisst so, weil es im 19. Jahrhundert gerodet wurde, um vom Holzverkauf 128 Personen aus dem Dorf die Überfahrt nach Amerika zu finanzieren, damit diese die Armenkasse der Gemeinde nicht weiter belasteten.
Weite Landstriche wurden zwischen dem Mittelalter und dem 20. Jahrhundert gerodet. Dennoch sind Wälder bis heute Teil des Schweizer Landschaftsbilds geblieben. Neben den wenigen erhaltenen Urwäldern, wie etwa demjenigen von Derborence im Wallis, stehen in der Schweiz heute hauptsächlich vom Menschen bewirtschaftete oder gar neu angelegte Nutzwälder.
Einzelne Toponyme lassen auf die Art der (früheren) Nutzung schliessen: Der Flurname Schlag kann ein für den Holzschlag vorgesehenes Waldstück bezeichnen – oder auch ein Flurstück, das durch Holzschlag gerodet wurde. Im Heuwald wurde Heu oder Laub gesammelt, im Weidwald weidete das Vieh und der Stelliwald diente dem Schutz des Viehs, vielleicht bei Unwettern.
Daraus wird ersichtlich, dass nicht nur die Rodung von Wald, sondern auch der Wald selber für die gesamte Bevölkerung existenziell war. Bis ins 19. Jahrhundert diente er als Nahrungsquelle (Pilze, Beeren, Kleinwild; grosses Wild war lange der Obrigkeit vorbehalten), als Weideland für Gross- und Kleinvieh sowie als Lieferant von Bau- und Brennholz – letzteres bis heute.
Der Wald hatte eine derart grosse Bedeutung, dass Regeln über die Nutzung nötig waren. Regeln, die sich auch in einzelnen Toponymen widerspiegeln: Der Name Bannwald oder verschliffen Ba(u)wald verweist auf ein obrigkeitliches Verbot oder eine Einschränkung der Nutzung. Im voralpinen und alpinen Raum waren solche Wälder vor allem deshalb geschützt, weil sie Lawinen, Erdrutsche und Steinschlag von den Siedlungen abhielten. Noch heute haben gut 40 Prozent des Schweizer Waldes diese Funktion.
Eine noch grössere Rolle spielten die Besitzverhältnisse bei der Benennung von Wäldern und Waldstücken: Ein Herrschaftswald, Fronwald oder Ho(ch)wald war der Obrigkeit zur Nutzung vorenthalten. Ein Pfruend- oder Chilchewald gehörte der Pfarrei, ein Burgerwald der Burgergemeinde, ein Staatswald dem Kanton. Ein Hau-, Allmein- oder Allmendwald war im Besitz der Allgemeinheit und ein Eigewald privat.
Toponyme verraten viel über frühere Besitzverhältnisse, Technologien und Kulturtechniken. So sind auch die verschiedenen Arten der Waldnutzung und -rodung, die unsere Vorfahrinnen und Vorfahren im Lauf des vergangenen Jahrtausends anwandten, in unzähligen Orts- und Flurnamen dokumentiert – besser als in mancher Urkundensammlung.
* In der ursprünglichen Fassung des Artikels stand irrtümlich «Schwendi bei Heiden (AR)».