Da sass er nun an jenem 19. August 1991 in einem schlichten Sitzungszimmer im Berner Beatrice-von-Wattenwyl-Haus in seinem buddhistischen Mönchsgewand, mit wachen Augen hinter der getönten Brille, und lächelte sein berühmtes Lächeln: Tenzin Gyatso, formell Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama. Sein Gegenüber war der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Bundesrat René Felber. Diesem denkwürdigen ersten Besuch des Oberhaupts der tibetischen Exilregierung bei einem Mitglied des Bundesrats ging eine lange und kontroverse Beziehungsgeschichte voraus. Sie soll hier erzählt werden.
Die Schweizer Öffentlichkeit nahm schon früh regen Anteil am Schicksal des weiten Hochgebirgslandes hinter dem fernen Himalaya. Als 1950 Truppen der chinesischen Volksbefreiungsarmee Tibet besetzten und der Dalai Lama 1959, nach der brutalen Niederschlagung eines Aufstands in Lhasa, mit seinen Gefolgsleuten nach Indien floh, solidarisierten sich in der stramm antikommunistisch gesinnten Schweiz viele mit dem unterdrückten Bergvolk. 1960 begann der Bau eines Tibet-Hauses im Kinderdorf Pestalozzi im appenzellischen Trogen, wogegen die chinesische Botschaft in Bern bereits heftig protestierte.
Der in demselben Jahr gegründete Verein für tibetische Heimstätten in der Schweiz (VTH), an dem sich auch das Schweizerische Rote Kreuz beteiligte, erhielt 1961 die Bewilligung zur Aufnahme einer ersten Gruppe von 23 tibetischen Flüchtlingen aus Nepal in eine Kollektivunterkunft in der Ostschweiz. Gleichzeitig begann der Oltner Industrielle Charles Aeschimann mit der (heute höchst umstrittenen) Vermittlung von 160 Kindern aus Tibet an Pflegefamilien in der Schweiz. Im März 1963 entsprach der Bundesrat schliesslich dem Begehren des VTH um «Aufnahme von 1000 tibetanischen Flüchtlingen in unserem Land». Die Schweiz beherbergte fortan die grösste tibetische Gemeinschaft in Europa.
Daneben engagierte sich die Schweiz vor Ort für die tibetischen Flüchtlinge in Nepal. Das Königreich an der Grenze zu China war ein Schwerpunktland der noch jungen schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Das Programm umfasste diverse Landwirtschaftsprojekte sowie verschiedene Massnahmen zur Berufsbildung und zur Förderung der traditionellen Teppichweberei unter den exilierten Tibeterinnen und Tibetern. Die Schweiz war deshalb für die tibetische Exilregierung im indischen Dharamsala von grosser Bedeutung.
So ersuchte der Dalai Lama um die Erlaubnis, dass sein persönlicher Repräsentant für Europa sich in Genf ein Büro einrichten dürfe. Der Bundesrat gewährte dies 1964 unter der Auflage, dass sich die Tätigkeit des Vertreters auf religiöse und kulturelle Aspekte beschränke. Die chinesischen Proteste konterte das EDA mit Berufung auf die humanitäre Tradition der Schweiz und mit Verweis auf die neutralitätskonforme Einhaltung der Auflagen durch den Repräsentanten des Dalai Lama.
Als im Zuge der Kulturrevolution das chinesische Aussenministerium von Diplomaten «gesäubert» und deren Posten durch radikale Aktivisten besetzt wurden, schlugen diese einen schärferen Ton an. Just in dieser heissen Phase wurde im zürcherischen Rikon im Tösstal auf Initiative der lokalen Industriellen Henri und Jacques Kuhn ein Tibet-Institut eingeweiht. Im Juli 1967 landeten fünf tibetische Priester (Lamas) in Kloten, um die Leitung des Klosters anzutreten. Nun nahmen die verbalen Angriffe aus Beijing Formen an, die für Bern unannehmbar waren. Als die chinesische Botschaft in Bern in einer diplomatischen Note «forderte», dass die Schweiz ihre «Unterstützung für die tibetischen Banditen-Rebellen bei ihren antichinesischen Aktivitäten» beende, war dies dem EDA zu viel.
Generalsekretär Pierre Micheli erklärte strikt, die Schweiz habe als wenngleich kleines Land «in 800 Jahren Geschichte nie akzeptiert, sich dem Willen fremder Staaten zu unterwerfen». Der Bundesrat beschied in einer offiziellen Verlautbarung, man habe sich gegenüber Beijing ausreichend erklärt und werde auf «weitere chinesische Demarchen in der Angelegenheit der tibetanischen Flüchtlinge in der Schweiz nicht mehr eingehen».
Verteidigungsminister Nello Celio, der für den abwesenden EDA-Vorsteher das geharnischte Communiqué durch den Bundesrat brachte, bemerkte lapidar, selbst ein Abbruch der Beziehungen zu China wäre «nicht so schlimm»: «Unsere Ausfuhr nach China beträgt lediglich etwa 30 Millionen.» Selten stellte die Schweizer Regierung sich derart spontan und resolut für ihre Werte und Flüchtlinge auf die Hinterbeine.
Im Windschatten der Annäherung der Volksrepublik an die USA zu Beginn der 1970er-Jahre bemühte sich dann auch die Schweiz wieder um vermehrte Kontakte zu Beijing. Zur Eröffnung einer Swiss Industrial Technology Exhibition reiste Aussenminister Pierre Graber im August 1974 als erster Bundesrat überhaupt nach China. Im Vorfeld hatte die geplante Tibet-Ausstellung im Völkerkundemuseum der Universität Zürich neuerlich für Misstöne gesorgt.
Zudem stellte der Dalai Lama im März 1973 erneut das Gesuch, im Rahmen einer Europareise die Schweiz zu besuchen. Nachdem der Bundesrat solche Begehren 1968 (anlässlich der Einweihung des Tibet-Instituts in Rikon) und 1972 abschlägig beantwortet hatte, erteilte die Regierung nach langen Diskussionen schliesslich die Erlaubnis – unter der Bedingung, dass der Besuch des religiösen Oberhaupts der Tibeter «rein privaten Charakter» haben müsse.
In der Folge besuchte der Dalai Lama regelmässig die Schweiz. Als er sich im August 1983 in einem Artikel in der «Tribune de Lausanne» über das Verhältnis zu Beijing aussprach und die chinesische Botschaft wegen dieser Äusserungen vorstellig wurde, legte das EDA dem Dalai Lama nahe, «für den Rest seines Aufenthaltes in der Schweiz grössere Zurückhaltung» zu üben. Immer wieder regte der Dalai Lama auch an, von einem Mitglied des Bundesrats empfangen zu werden.
Ihre Weigerung begründete die Landesregierung damit, dass die Schweiz sich zwar für kulturelle und religiöse Freiheitsrechte der tibetischen Minderheit ausspreche, Tibet allerdings in Übereinstimmung mit der internationalen Gemeinschaft als integralen Bestandteil der Volksrepublik China betrachte. Der Bundesrat wollte vermeiden, durch einen Empfang den Anschein zu erwecken, man betrachte den Dalai Lama auch als politischen Führer der Tibeter.
Eine Abkehr von dieser Politik begann sich im Nachgang der Ereignisse von Tian’anmen im Juni 1989 abzuzeichnen. Die Schweiz verurteilte die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung durch das chinesische Regime in deutlichen Worten und setzte «klare Signale der Missbilligung». Bereits im Juni 1990 diskutierte das EDA das Für und Wider eines Empfangs des Dalai Lama, dem im Dezember 1989 in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen worden war.
Schliesslich überwog jedoch die «Rücksichtnahme auf die chinesischen Empfindlichkeiten» gegenüber der «Befriedigung der öffentlichen Meinung», die durch diese Geste hätte erzielt werden können. Allerdings durfte der Besucher aus Dharamsala in Rikon mit Botschafter Jean-Pierre Keusch erstmals einen offiziellen Vertreter des EDA zum Gespräch treffen.
Als im Folgejahr der Dalai Lama abermals in die Schweiz reiste, gewichtete das Departement die Kriterien, die für einen Empfang durch den Bundesrat sprachen, anders: «Der Dalai Lama, der sich hinsichtlich der Tibet-Frage durch eine gemässigte Haltung auszeichnet, verdient mit seinen Forderungen nach Beachtung der Menschenrechte (inklusive Minoritätenschutz) eine offizielle Solidarisierung durch die schweizerischen Behörden», hiess es in einer Notiz des EDA.
Gleichzeitig wurde unterstrichen, dass dieser Kontakt «keine Änderung in der schweizerischen Beurteilung des völkerrechtlichen Status des Tibet bedeutet». Gewiss verurteilte der chinesische Botschafter in Bern den Empfang bei Bundesrat Felber als «Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas». Die Kritik des Diplomaten fiel jedoch «bemerkenswert milde» aus und er betonte gegenüber dem EDA, «dass es wegen dieses Problems nicht zu einer Polemik kommen sollte».
Die Aktion war geglückt. Der Dalai Lama konnte getrost lächeln.